Vor ziemlich genau 70 Jahren setzten sich in Berlin 15 Männer bei Frühstück und Cognac zusammen, um in netter, ruhiger und offener Stimmung die Details des größten Menschheitsverbrechens zu besprechen. So hat sich Adolf Eichmann während seiner Haftzeit in Israel an die Staatssekretärsbesprechung vom 20. Januar 1942 erinnert, die als „Wannseekonferenz“ in die Geschichte eingegangen ist.

Vor ziemlich genau 70 Jahren, am 15. Februar 1942, traf in Auschwitz der erste Transport mit Juden aus Oberschlesien ein. Alle Neuankömmlinge wurden direkt von der Rampe in die Gaskammer geführt, mit Zyklon B getötet und unmittelbar danach verbrannt.

Vor ziemlich genau 70 Jahren, am 26. März 1942, erreichte ein Transport mit 1000 Häftlingsfrauen aus dem KZ Ravensbrück das KZ Auschwitz, unter ihnen Orli Wald, die damals noch Reichert hieß. Ihre ersten Eindrücke von diesem Ort, symbolisiert durch das Tor mit der Aufschrift „Arbeit macht frei“, lassen das Grauen erahnen, mit dem Orli Wald bis an‘s Ende ihres Lebens geplagt sein wird.

„Sie hatten nur davor gestanden, eine lange, lange Zeit. Die Füße bis zu den Knöcheln in lehmiger Erde, die Gesichter preisgegeben dem Regen, der vom Himmel fiel, so fiel, als wollte er nie ein Ende nehmen. Naß waren sie bis auf die Haut. Doch das hatte sie nicht gestört. Naß sein ist nicht so schlimm, man wird wieder trocken. - Viel schlimmer war ihnen der Lastwagen erschienen, der an ihnen vorbeigefahren war. Er fuhr sehr schnell, aber nicht so schnell, daß sie nicht hätten sehen können, daß er hochbepackt war mit Leichen. Arme, Beine, Köpfe sahen sie baumeln und über allem eine rote Farbe.“

Wenig später ist Orli nur noch Häftling Nr. 502. Sie beginnt mit anderen Kameradinnen, praktisch aus dem Nichts heraus ein Krankenrevier im Frauenlager einzurichten. Es wird, wie von der SS geplant zum Todesrevier. Vom 26. März 1942 bis zum Ende desselben Jahres werden dort 27905 Frauen registriert, von denen Anfang Januar 1943 noch 5367 leben. Jeden Tag sterben also 80 Frauen, die meisten von ihnen werden von Ärzten mit Phenolinjektionen umgebracht.

„Jeder Tag war angefüllt mit Entsetzen, Mord und der Bitternis der Verzweiflung“, erinnert sich Orli Wald. „Sie wußten schon nicht mehr, ob sie noch unter Menschen waren, ob es überhaupt noch Menschen gab. Die Erde trank rotes Blut, so wie sie den Regen trank und den Tau. Der Himmel nahm das Rot, welches der Schornstein auf dem Hügel ausspie und schmückte sich damit. - Ein einziger verzweifelter, wilder Schrei war dieses Stück Erde, auf dem sie lebten. Und es gab auf der ganzen Welt keine Stimme, die gerufen hätte: ‚Halt, hört auf zu morden!‘“

Anfang 1961 bekommt Orli Wald in Hannover Besuch von der schwedischen Häftlingskameradin Margarete Glas, der sie ihre Verzweiflung mitteilt: „Ich kann Auschwitz nicht vergessen. Ich sehe noch immer die brennenden Kamine und die Kinder, die in das offene Feuer geworfen werden. Ich habe vergebens gekämpft, und ich kann in der heutigen Zeit nicht mehr weiter kämpfen. Wofür lebe ich noch?“

Vor ziemlich genau 50 Jahren, am 1. Januar 1962, ist Orli Wald an den Leiden des Überlebens gestorben.

Ich verneige mich vor einer großen Frau, die unter persönlich bedrückenden Bedingungen ein Mensch des aktiven Anstands geblieben ist.

Orli Walds Zitate sind dem Buch "Hinter der grünen Pappe" Orli Wald im Schatten von Auschwitz - Leben und Erinnerungen" von Bernd Steger und Peter Wald, VSA Verlag, Hamburg, 2008, 255 S., € 16,80

36. Osterfeuer der SPD Südstadt-Bult