Am 1. Juni 1945 erhalten die Genossen August Anger, Willy Tendeler und andere von der britischen Militärregierung ein „Permit“, das maximal sechs Personen die Abhaltung einer Zusammenkunft im Bahnhofshotel Wennigsen gestattet, auf der über die Wiedergründung der Konsumgenossenschaft in Wennigsen und die „Wiederherstellung“ der Sozialdemokratischen Partei zur Unterstützung der Konsumgenossenschaft gesprochen werden darf.

Dass Kurt Schumacher zu den Teilnehmern dieser Zusammenkunft gehört, ist unwahrscheinlich, da er in Hannover lebt, aber er ist unterrichtet. Schumacher ist im britischen Einflussbereich bereits die unangefochtene Führungsperson. Beitragsmarken für die ersten neuen Parteibücher aus dem Juni 1945 sind mit seinem Porträt versehen. Am 5. August 1945 treffen sich 106 Personen im Bahnhofshotel und gründen den Ortsverein Wennigsen.

Bereits am 11. Juli 1945 haben in Hannover die Genossen Egon Franke und Johannes Lau im Auftrage des Bezirksvorstands Hannover den ehemaligen Reichstagsabgeordneten Dr. Kurt Schumacher „mit der organisatorischen und politischen Führung der Partei im gesamten Reich“ beauftragt. Das ist ein wenig anmaßend, denn Hans Vogel, der letzte verbliebene Parteivorsitzende aus der Zeit vor der Machtübertragung an die Nazis, lebt in London und arbeitet dort intensiv an der Zusammenführung aller demokratisch-sozialistischen Gruppierungen für ein neues Deutschland. Dies ist Kurt Schumacher durchaus bewusst, denn er verfügt über rege Kontakte nach London.

Ausgestattet mit Mandaten anderer „SPD-Bezirke“ im britischen Besatzungsgebiet teilt Kurt Schumacher den „werten Genossen“ am 28. August 1945 mit: „Am 5., 6. und 7. Oktober 1945 findet in Hannover eine („Art“, handschriftlich hinzugefügt)) Reichskonferenz statt. Die Genossen in London sind dazu auch eingeladen. Die Konferenz umfasst die drei westlichen Besatzungszonen.“ Dies ist in doppelter Hinsicht bemerkenswert, denn zum einen hat sich Schumacher nicht mit den westlichen Alliierten abgestimmt und zweitens grenzt er bewusst den Zentralausschuss der SPD in Berlin aus.

Am 29. September 1945 bittet Kurt Schumacher den „sehr geehrten Genossen Kopf“ persönlich und vertraulich, „für die Verpflegung der Teilnehmer an der Konferenz in Wennigsen den zugesagten Frischfisch in Höhe von 5 Ztr. zu vermitteln“. Für weitere Fischkonserven im Interesse der Teilnehmer wäre er sehr dankbar. Außerdem teilt er dem Oberpräsidenten Hinrich Wilhelm Kopf zur persönlichen Disposition die Tagesordnung mit: „ Am 1. Tag, dem 5.10., wird der Genosse Schumacher ein grundlegendes politisches und organisatorisches Referat erstatten, dem sich die Aussprache anschliessen soll. Beginn morgens 8 Uhr. Falls die Zeit ausreicht, wird der 2. Tag vier Referate über Richtlinien zur Wirtschafts-, Agrar-, Sozial- und Kulturpolitik bringen. Am Nachmittag des 2. Tages wird über dies Referat eine Aussprache erfolgen.“

Einen Tag vor der Konferenz erhält Kurt Schumacher von der Militärregierung die Genehmigung, eine Versammlung durchzuführen, „um die politischen Prinzipien zu diskutieren, auf deren Grundlage sozialdemokratische Parteien einzig auf Kreisebene errichtet werden könnten, wenn dies von der Militärregierung genehmigt würde.“ Die Teilnehmerzahl wird auf 38 Personen, Kurt Schumacher inklusive, beschränkt. Stimmberechtigte Teilnehmer von außerhalb des britischen Besatzungsgebiet sind ausgeschlossen. Dem stimmt Kurt Schumacher, vertreten durch seinen Stellvertreter Herbert Kriedemann, zu.

Tatsächlich finden sich am 5. Oktober 1945 im Bahnhofshotel in Wennigsen 30 Delegierte aus zehn Bezirken des britischen Besatzungsgebietes, drei Gäste aus London und als Redner Kurt Schumacher ein. Die Anwesenheitsliste ist weit umfangreicher. Sie verzeichnet die wesentlichen sozialdemokratischen Akteure der unmittelbaren Nachkriegszeit und der frühen Bundesrepublik Deutschland: Otto Brenner (IG-Metall-Vorsitzender), August Holweg (Oberbürgermeister in Hannover), Wilhelm Kaisen (Bürgermeister in Bremen), Hinrich Wilhelm Kopf (Niedersächsischer Ministerpräsident), Alfred Nau (SPD-Schatzmeister) und Annemarie Renger (Bundestagspräsidentin). Aus Berlin sind angereist die ehemaligen Reichstagsabgeordneten Gustav Dahrendorf, Max Fechner (Justizminister der DDR bis zum 17. Juni 1953) und Otto Grotewohl (erster Ministerpräsident der DDR).

Dass all diese Menschen am 5. Oktober 1945 ausgerechnet in Wennigsen zusammentreffen, hat mehrere, vor allem logistische Gründe. Die Kleinstadt ist unzerstört, verfügt über einen genügend großen Versammlungssaal und einen Bahnhof. Für die britische Besatzungsmacht ist dies insofern bedeutsam, als von Wennigsen aus der Flugplatz in Bückeburg direkt zu erreichen ist. Für die TeilnehmerInnen der „Reichskonferenz“ bietet Wennigsen den Vorteil eines bereits vorhandenen SPD-Ortsvereins, was die Unterbringung und Verpflegung der Gäste erheblich erleichtert. Fast alle Mitglieder des Ortsvereins Wennigsen sind vom 5. bis zum 7. Oktober 1945 im Einsatz, vor allem in der Familienhilfe für die Unterbringung der vielen unangemeldeten Gäste. Die Genossen Schönleiter und Gleue sind für die Saalgestaltung verantwortlich, und der Arbeitergesangverein „Waldesgrün“ sowie die Kapelle der Freiwilligen Feuerwehr gestalten das Rahmenprogramm der Begrüßungsfeier. Sie sind erfolgreich. Ein Genosse des Ortsvereins berichtet später: „An die Konferenz kann ich mich gut erinnern, denn es waren die frohen Tage eines bitteren Jahres. Den Festsaal hatten wir geschmückt mit Girlanden und einem Bild, das uns vorbeigebracht wurde. Wir erwarteten unsere Freunde, die wir nur aus den Gedanken kannte, aber uns jahrelang begleitet hatten.“

Dass die „Reichskonferenz“ in die Geschichte eingehen würde, können Kurt Schumacher und seine Mitstreiter nicht ahnen, denn trotz des mittlerweile lautstark vertretenen Alleinvertretungsanspruchs des „Büro Schumacher“ gleicht die Sozialdemokratie in der unmittelbaren Nachkriegszeit einem sozialistischen Flickenteppich. Viele Positionen aus äußeren und inneren Exilen machen die Verständigung auf eine demokratisch-sozialistische Partei schwierig. Die wesentlichen Vorarbeiten auf sozialdemokratischer Seite hat Hans Vogel im Londoner Exil geleitet, wo er in der „Union deutscher sozialistischer Organisation in Großbritannien“ die SPD und mehrere, in den Verzweiflungsjahren der Weimarer Republik entstandene Abspaltungen, zum produktiven Dialog zusammenführt: Die Sozialistische Arbeiterpartei (SAP), den Internationalen Sozialistischen Kampfbund (ISK) und versprengte sozialistische Gruppen, die am Rande von SPD und KPD entstanden waren, darunter die Gruppe „Neu Beginnen“.

Viele Vertreter dieses bunten sozialistischen Spektrums sind in Wennigsen zugegen. Erwin Schoettle aus London (Neu Beginnen), Otto Brenner aus Hannover (SAP) und Alfred Kubel aus Braunschweig (ISK). Alle hatten auf unterschiedliche Weise auf die Zusammenführung der Arbeiterparteien hingewirkt. Am weitesten war dabei Alfred Kubel gegangen, der in Braunschweig die Idee einer „Sozialistischen Einheitspartei“ (SEP) entwickelt hatte, die er am 5. September 1945 bei der britischen Militärregierung beantragt. Gleichwohl nimmt Kubel Kontakte zum Büro Schumacher auf, um die Zusammenführung von SPD, SAP und ISK in die Wege zu leiten und wird als SEP-Delegierter zur „Reichskonferenz“ eingeladen. Auch Otto Brenner hat in Hannover Gespräche mit alten Kommunisten geführt, ohne Aussicht auf Erfolg, denn von der Sowjetmacht kommen keine Vereinigungssignale für eine sozialdemokratisch dominierte deutsche Arbeiterpartei.

Unter diesen Vorzeichen ist auch der Besuch der Berliner Gäste um Otto Grotewohl zu sehen, der wie viele andere Sozialdemokraten in allen Besatzungszonen eine einheitliche sozialistische Partei anstrebt, diese allerdings von einem gesamtdeutschen Parteitag wählen lassen möchte. Grotewohl ist dabei zunächst in der Vorhand, denn die SPD ist in Berlin bereits eine zugelassene Partei und der Zentralausschuss, wie auch immer zustande gekommen, das parteioffizielle Organ. Im Gegensatz zu Kurt Schumacher ist Grotewohl jedoch kein Antikommunist, und er steht im Widerspruch zu Schumachers offensiver Westorientierung.

Am Abend des 6. Oktober verhandeln Kurt Schumacher und Otto Grotewohl in der Küche von Friedrich Schönfeld in Wennigsen über den weiteren Fortgang des sozialdemokratischen Neubeginns in Deutschland. Angeblich soll es dabei sehr laut hergegangen sein. Grotewohl mag Schumachers Führungsanspruch nicht akzeptieren, und Schumacher lehnt die Idee eines gesamtdeutschen sozialdemokratischen Referendums ab, wohl aus der Befürchtung heraus, die sowjetische Besatzungsmacht könnte entscheidenden Einfluss nehmen. Diese Befürchtung ist nicht grundlos, soll sich aber erst ein gutes halbes Jahr später mit der Vereinigung von KPD und SPD zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschland (SED) bewahrheiten.

Aus dem nächtlichen Disput in Wennigsen fahren Grotewohl und seine Berliner Genossen mit dem Versprechen zurück, alles für eine einheitliche Sozialdemokratische Partei in Deutschland zu tun. Der Druck der Besatzungsmächte, im Westen wie im Osten, ist jedoch letztlich stärker. Daher gilt die „Reichskonferenz“ in Wennigsen zu Recht als Gründungsversammlung der deutschen Nachkriegs-SPD. Die „Ironie der Geschichte“ fügt es, dass der Wegbereiter der neuen SPD, Hans Vogel, dessen Grußwort auf der „Reichskonferenz“ verlesen wird, am 6. Oktober 1945 in London stirbt. Er ist heute so gut wie vergessen, obwohl „Wennigsen" ohne ihn kaum denkbar ist.

Literatur
Peter Merseburger, Der schwierige Deutsche, Kurt Schumacher, Eine Biographie, Stuttgart, 1995, 544 S.

Wolfgang Renzsch, Alfred Kubel, 30 Jahre Politik für Niedersachsen, Eine politische Biographie, Bonn, 1985, 232 S.

Dieter Groh/Peter Brandt, „Vaterlanfslose Gesellen, Sozialldemokratie und Nation1860 - 1990, Müchen 1992, 469 S.

Vorstand SPD-Gemeindeverband Wennigsen, Deutsche Geschichte in Wennigsen 1930 - 1950, Begleitheft zur Ausstellung, Wennigsen, 2000,

Foto: Kurt Schumacher, Quelle nicht zu ermitteln

36. Osterfeuer der SPD Südstadt-Bult