Am 23. August 1845 gründen in Hannover sechs Buchdrucker den „Buchdrucker-Leseverein“. Die Gründungsmitglieder sind heute weitgehend vergessen. Das ist ärgerlich, denn die sechs Buchdrucker bilden die Keimzelle der organisierten Hannöverschen Arbeiterbewegung.
Nicht nur Hannover hat auf diesem Gebiet Lücken in der Erinnerungskultur. Lediglich Friedrich Stegen wird gelegentlich erwähnt. Das ist ungerecht.

Der 12. Januar ist daher Anlass genug, an einen der Gründer des „Buchdrucker-Lesevereins“ zu erinnern: an Leopold Spengemann. Der Geburtstag dieses Vorkämpfers der Hannöverschen Arbeiterbewegung jährt sich 2016 zum 200. Mal.

Geboren wird Spengemann in Hannover, wo er zunächst das Klempnerhandwerk erlernt. Wie Spengemann zu den Buchdruckern stößt, die neben den Zigarrenarbeitern Mitte des 19. Jahrhunderts die „Avantgarde“ der Arbeiterbewegung bilden, ist nicht überliefert. Da es im Reich des Hannöverschen Königs Ernst August verboten ist, politische Vereine zu gründen, greifen die fortschrittlich gesonnenen Buchdrucker zu einer List und gründen einen Leseverein, der seinen Mitgliedern durch Bildung die Integration in die bürgerliche Gesellschaft ermöglichen soll. Wegen der repressiven politischen Verhältnisse verzichten die Vereinsgründer bewusst auf jegliche politische Aussage.

Werke von Karl Marx sind daher in der ersten Bibliothek des Lesevereins nicht enthalten. Friedrich Engels Schrift über „Die Lage der arbeitenden Klassen in England“ gehört dagegen zum Bestand. Wahrscheinlich gingen die Vereinsgründer davon aus, dass dieses Zeitzeugnis nicht unter den Tatbestand der „Agitation“ fallen würde. Die Bücher des Lesevereins dienen vor allem der Verbreitung schöngeistiger Literatur. Wilhelm Liebknecht hat dieser Form der politischen Arbeit 1872 mit der Kurzformel „Wissen ist Macht“ das entsprechende, zeitgemäße Prädikat verliehen.

Als sich 1848 überall in deutschen Landen Geknechtete gegen die feudalen Herrscher erheben, benennen Leopold Spengemann und seine Genossen den Leseverein in „Arbeiterverein zu Hannover“ um. Auch dieser ist als „Arbeiter-Bildungsverein“ zu verstehen, denn er widmet sich vor allem bildungspolitischen Aufgaben und vermittelt Kenntnisse im Schreiben, Rechnen, Geometrie und Zeichnen, um Arbeiter besser auf das Berufsleben vorzubereiten. Der Leitspruch des „Arbeitervereins zu Hannover“ lautet von daher konsequent: „Durch Bildung zum Licht und zur Freiheit“.

446 Handwerksgesellen gehören 1848 dem Arbeiterverein an und nennen sich fortan „Fabrikarbeiter“ oder „Arbeitsmann“. Auch Leopold Spengemann verdient seinen Lebensunterhalt als Fabrikarbeiter, bleibt aber weiterhin dem Gedanken der Arbeiterbildung verhaftet. 1851 wird sein Sohn Wilhelm geboren, der als Journalist und „Schnurrenerzähler“, vor allem in Hannöverscher Mundart, bis heute bekannt ist. Noch bekannter ist dessen Sohn, Leopolds Enkel Christof Spengemann, der als enger Freund von Kurt Schwitters 1919 „Die Wahrheit über Anna Blume“ veröffentlicht.

Die Geschichte dieser Hannöverschen „Arbeiter-Dynastie“ komplettiert Leopolds Urenkel, der Journalist Walter Spengemann. Er ist einer der politischen Köpfe der „Sozialistischen Front“, die bis zu ihrer Zerschlagung 1936 als größte antifaschistische Widerstandsorganisation im nationalsozialistischen Deutschland angesehen wird. Auch Christof Spengemann und dessen Frau Luise engagieren sich dort. Walter Spengemann wird 1937 vom so genannten „Volksgerichtshof“ zu 10 Jahren Zuchthaus verurteilt. Auch die Eltern erhalten längere Haftstrafen.

Der „unermüdliche Kämpfer für Bildung und Gesittung“ bleibt bis zu seinem Tod am 1. September 1888 in der Arbeiterbewegung aktiv. Der „Arbeiterverein zu Hannover“ adelt Leopold Spengemann zum „Vater“ des Vereins und ernennt ihn zum Ehrenmitglied. Ein Jahr nach dessen Tod widmet der Arbeiterverein dem Pionier der Hannöverschen Arbeiterbewegung ein imposantes Grab auf dem Engesohder Friedhof, das von einem Kopfrelief des Bildhauers Wilhelm Aping geziert wird. Leopold Spengemanns letzte Ruhestätte wird als städtisches Ehrengrab geführt. Der marode Zustand dieses Denkmals der Hannöverschen Arbeiterbewegung gereicht der Stadt Hannover allerdings nicht zur Ehre. Es bedarf dringend der Restaurierung.

Foto: Ehrengrab Leopold Spengemann.
Foto: lopo

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