1966 — Jon Savages fulminantes Werk über das Jahr, in dem das Jahrzehnt explodierte.

Das Jahr 1966 begann in der damaligen Bundesrepublik mit einem musikalischen Paukenschlag: Statt des gewohnten Schleims aus den Kulissen des Musikantenstadls forderte ein gewisser Herr Jagger, man möge doch die Rolling Stones in Ruhe lassen: Auf Platz 1 der Hitparade rangierte am 1. Januar „Get off of my Cloud“. In Großbritannien lagen am selben Tag die vermeintlichen Stones-Konkurrenten aus Liverpool vorn. Mit „Day Tripper“ und „We Can Work it Out“ veröffentlichten die Beatles die überhaupt erste Doppel-A-Single. Dem Rezensenten war die Parteinahme für die „bösen Buben“ von der Themse oder die „netten Jungs“ aus Liverpool ziemlich einerlei. Er hatte sich für „The Who“ entschieden, was den Vorteil bot, auch die beiden anderen Bands zu mögen.

In den U.S.A. besangen Simon and Garfunkel am 1. Januar 1966 auf Platz 1 der Charts „The Sounds of Silence“ und mit dieser Metapher beginnt der englische Musikjournalist Jon Savage sein Buch über das magische Jahr 1966. Nicht nur für ihn ist die vermeintlich existenzialistische Ruhe, die beiden New Yorker Rock-Poeten ausbreiten, die Ruhe vor dem Sturm, der sich zusammenbraut. Savage. Jahrgang 1953, hat — wie der Rezensent, Jahrgang 1950 — diese Zeit „livehaftig“ in sich aufgesogen. „Für die Jungen, die in der 1940er und frühen 1950er Jahren geboren wurden“, beschrieb Simon and Garfunkels querliegender Song „die Alpträume in den Köpfen, die sie nicht abschütteln konnten“.

Jeden Monat des Jahres 1966 hat Jon Savage mit einem speziellen musikalischen und gesellschaftspolitischen Leitmotiv versehen. So ist der Januar mit den Worten überschrieben: „Eine ruhige Explosion: CND, Protest und die Verschwörung der Stille“. CND steht dabei für die „Campaign for Nuclear Disarmament“, die hierzulande als „Ostermarschbewegung“ in die Geschichte eingegangen ist. Im Februar folgt der „Nineteenth Nervous Breakdown“ und im März „The Ballad of the Green Berets“.

Dieser kriegsverherrlichende Song des Vietnam-Veteranen Barry Sadler ist eine Reaktion auf Barry McGuires wütendes „Eve of Destruction“ und steht vor allem für die Brüchigkeit der U.S.Amerikanischen Gesellschaft und die Auseinandersetzung zwischen dem Mainstream-Hurrapatriotismus und den lautstark auf den Straßen ausgelebten Protesten gegen das „Morden im Namen von „Freedom and Democracy“. So hatte im Februar 1966 Muhammad Ali den Kriegsdienst verweigert mit den Worten: „Mann, ich habe doch keinen Streit mit dem Vietcong“ und am 16. Mai 1966 marschierten Hunderttausende zum Weißen Haus, um das Ende des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges im fernen Osten zu fordern.

Jon Savage hat in ungeheurer Fleißarbeit vor allem die Musik-Magazine jener Jahre durchgeforstet und auch die jeweiligen lokalen Befindlichkeiten aufgespürt. So hielten die Westcoast-Musiker nichts von den arroganten Klang-Intellektuellen aus New York City. Dabei waren sie sich untereinander auch nicht grün: Die LA-Szene konnte mit den Hippies aus San Francisco nichts anfangen, denen hinwiederum die plätschernden Surf-Ergüsse aus dem Süden Kaliforniens auf die Geister gingen.

Als der Rezensent im August 1966 für ein Jahr als Austauschschüler nach Philadelphia zog, waren die ersten Eruptionen weitgehend verebbt und die U.S.A. befanden sich im Sommerurlaub. Entsprechend entspannt war die Musik jener Wochen: „Lovin' Spoonful“ priesen den „Summer in the City“ und Donovan ließ bei über 30 Grad im Schatten seinen „Sunshine Superman“ über die Plattenteller tanzen. In Großbritannien genossen die jenseits des Atlantiks damals kaum bekannten Kinks zwar noch ihren „Sunny Afternoon“. Der hatte jedoch eine B-Seite, die wieder an die Entfremdung des Jahresanfangs zurückführte. „I’m Not Like Everybody Else“ war aggressiv rockig und bewegte sich wieder in Richtung Explosion. Das schafften in den U.S.A. zur gleichen Zeit die britischen Troggs mit ihrem „Chart-Buster“ „Wild Thing“.

In der zweiten Hälfte des Jahres 1966 endete die Ära von Pop und Beatlemania und die Ratlosigkeit vieler Musiker und der wenigen Musikerinnen ergoss sich in Songs, die das Musikbox-gefällige Single-Format sprengten. Ein Motto für die einsetzende Suche nach Identität und Sinnhaftigkeit findet sich in Simon and Garfunkels Ballade „A Hazy Shade of Winter“: „Zeit, Zeit, Zeit, guck Dir an, was aus mir geworden ist, während ich Ausschau nach meinen Perspektiven hielt“. In Großbritannien besangen die Kinks mit „Dead End Street“ symbolisch die Sackgasse, in die die Pop-Musik geraten war.

Im Dezember 1966 lässt Jon Savage seine Pop-Welt mit der „inneren Auge“ Ausschau halten und vom Frieden träumen. Die Zeit der Kämpfe neigt sich dem Ende zu. Die „Good Vibrations“ der Beach Boys sind ebenso LSD-inspiriert wie die „Strawberry Fields“ der Beatles. Die zu Unrecht vergessene New Yorker Band „Blues Magoos“ verteilt per LP ihren „Psychedelic Lollipop“ und Grace Slick komponiert, bevor sie sich „Jefferson Airplane“ anschließt, für die „Great Society“ mit „White Rabbit“ die Drogenhymne schlechthin.

Als das Jahr zu Ende geht, resümiert John Lennon frustriert „Jeder kann in England mit längeren Haaren rumlaufen und geblümte Hemden und Hosen und ähnliches Zeug tragen, aber ansonsten herrscht weiterhin der übliche Unsinn“. Im Weihnachtsprogramm der BBC läuft eine frisch produzierte Version von „Alice in Wonderland“ und rundet so mit dem „White Rabbit“ das explosive Jahr 1966 ab. Die Charts haben sich beiderseits des Atlantiks der Feiertags-Dösigkeit ergeben. In der Bundesrepublik trällern „Dave Dee, Dozy Beaky Mick and Tich“ am 31. Dezember „Bend it“, in Großbritannien träumt Tom Jones vom „Green Grass of Home“ und in den U.S.A. hält die „New Vaudeville Band“ ihren Gottesdienst in der „Winchester Cathedral“ ab. Am Abend des 31. Dezember 1966 hat in der BBC die musikomische U.S. Seifenopernserie „The Monkees“ Premiere. Punkt. Ende. Aus. Ach ja: Manfred Manns „Pretty Flamingo“ stand vom 29. April bis zum 19. Mai 1966 auf Platz 1 der britischen Charts.

Leider gibt es „1966“ bislang nur im englischen Original. Da Jon Savage ein sprachmächtiger Journalist ist, taugt das Buch nicht als Lektüre für Schulenglisch-Erprobte oder Gelegenheits-Inselbesucher. Dass der Rezensent es dennoch empfiehlt, liegt in der Hoffnung begründet, ein ebenso sprachmächtiger Zeit-Ohrenzeuge möge das Buch ins Deutsche übertragen, denn es ist gleichermaßen spannend für Menschen, die 1966 auf den Pop-Wellen surften, Menschen mit Nachholbedarf und Nachgeborene, die erfahren wollen, was ihre Eltern seinerzeit erlebt oder verpasst haben.

Lothar Pollähne


Jon Savage, 1966 — The Year the Decade Exploded, 653 S., London, 2016, € 22,40

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