Aus Anlaß des 70. Jahrestages der Pogromnacht in Hannover verlas der Bürgermeister des Stadtbezirks Südstadt-Bult, Lothar Pollähne, die Namen der aus dem Stadtbezirk verschleppten Juden und las einen Erinnerungstext des Bibliothekars und Dichters Werner Kraft, der 1933 vor den Nazis nach Palästina flüchten konnte.

Heute vor 70 Jahren, etwa um diese Zeit, traten Männer aus unserer Nachbarschaft Wohnungstüren in ihrer Nachbarschaft ein, verwüsteten dort die Einrichtungen, quälten die Bewohner und verschleppten die Männer. In der Jordanstraße 13 holten sie den Kaufmann Richard Goldschmidt, am Bischofsholer Damm 47 holten sie den Kaufmann Alfred Horn, in der Bandelstraße 28 holten sie den Fabrikanten Hermann Heine, in der Memelerstraße 16, das ist heute wieder die Heinrich Heine Straße, holten sie den Baumeister Fritz Loewe, am Stephansplatz holten sie den Kaufmann Ernst Scharfenberg, aus der Bodenstedtstraße 9 holten sie den Bücherrevisor Berthold Blumenberg, aus der Annenstraße 13 holten sie den Werbekaufmann Fritz Mendelsohn, aus der Baumstraße 16 holten sie den Angestellten Daniel Stein und den Fleischermeister Max Davidsohn und aus der Stolzestraße 12 holten sie den Vertreter Bernhard Natt. Aus der Tiestestraße 19, das ist heute die Nummer 39 , konnten sie keinen Juden mehr verschleppen. Dort hatte bis Ende 1933 der Dichter Werner Kraft gewohnt. Er war 1927 nach Hannover zurückgekehrt um eine Stelle als Bibliotheksrat an der vormaligen „Königlichen und Provizialbibliothek, der heutigen Gotthold Wilhelm Leibniz Bibliothek zu übernehmen. „Es fand sich eine Wohnung in der Nähe des Waldes“ schrieb Werner Kraft rückblickend, „und alles schien gut“. Seine Anstellung war lebenslänglich. Sie endete 1933. Über seine Empfindungen während der Zeit unmittelbar vor der Nazizeit schrieb Werner Kraft: „Wohl sah ich die schwarze Wolke am Himmel, aber ich zog die grüne Erde vor. Meine Gedichte sagten schon alles, was der sie schrieb noch nicht zur Kenntnis nahm.“ Resümierend notierte der Sachwalter Goethes in Jerusalem, wie Werner Kraft anerkennend genannt wurde: „Erst nach 1933 wußte ich endgültig und für immer, daß ich keine Deutscher war, daß ich ein Jude bin. Ihm wurde nun von einer verbrecherischen Gewalt diktiert, daß die Juden dem deutschen Volk nur durch die Sprache angehören. Was für ein Menetekel an der Wand, die schon mit Blut beschmiert war, eben durch jene Sprache, die jene Gewalt ermordete, ehe sie die Menschen ermordete.“ Ermordet wurden der Bücherrevisor Berthold Blumenberg und der Angestellte Daniel Stein 1941 im Ghetto von Riga. Der Fabrikant Hermann Heine wurde 1943 in Auschwitz umgebracht.

Vor knapp 30 Jahren hatte Lothar Pollähne die Gelegenheit mit der gebürtigen Südstädterin Margot Borchers über ihre Erinnerungen an die Zeit und die Stimmungen vor und nach der Pogromnacht vom 9. November 1938 zu sprechen. Die Aufzeichnungen erschienen zum ersten Mal im April 1980 in der Hannöverschen Monatszeitschrift "umbruch".

Als ich sieben Jahre alt war, ich ging damals in die Hannoversche Musterturnschule, damals Loges-Schule, zur Volksschule Altenbekener Damm, da hatten wir Turnstunde nachmittags und das war also an diesem berühmten Tag nach der Reichskristallnacht 1938, ich kam mit einer Freundin durch die Wissmannstraße in Richtung Karl-Peters-Platz nach Hause. Das fanden wir irgendwie interessant, daß da im Hintergrund was los war, wir sahen da also so Schupos mit Pickelhauben und dann welche, die hatten braune Anzüge an, und dann waren auch welche in schwarz da, als Kinder wußten wir nicht, was das für Leute waren, und da standen so große Lastwagen und auf der rechten Seite, die letzten zwei Häuser vorm Karl-Peters-Platz, das war fürchterlich, da lagen Scherben vor den Häusern, die Fenster waren eingeschlagen, da standen große Standspiegel auf dem Vorgarteneingang zum Haus. Auf den Spiegeln hatten sie solche Sterne gemalt, als Kinder wußten wir nicht, was das war, und dann stand da ein Ehepaar und die hielten sich beide so umklammert und weinten. Und als die Polizisten merkten, wir Kinder blieben stehen und guckten uns dieses Theater da an, da hat einer uns auf die andere Straßenseite geschickt, obwohl wir da gar nicht zu gehen brauchten, und wir mußten also dann so weitergehen bis zum Karl-Peters-Platz. Irgendwie hatte ich das Gefühlt, hier stimmt was nicht, wenn man so sieben Jahre alt ist, dann findet man das eigenartig, solch ein Umzug mit Polizei, wenn man umzieht, das war mir irgendwie unerklärlich. Uns als ich dann nach Haus kam, da habe ich dann meiner Mutter gesagt, was ich da gesehen hatte und da hat sie nur, daran kann ich mich heute noch erinnern, gesagt, also was du da gesehen hast, das vergiß mal ganz schnell und sprich mit niemandem darüber. Ich habe erst ganz spät erfahren, daß meine Tante, die Schwester meines Vaters mit einem Juden verheiratet war. Mein Onkel ist Berliner gewesen, der hat den 1. Weltkrieg mit Auszeichnung mitgemacht, der hat sogar das eiserne Kreuz gekriegt. Mein Onkel hatte einen Weißwaren en gros Handel, Bijouterie, der belieferte hier in Hannover alle größeren Geschäfte: Knöpfe, Schnallen und so etwas. Sein Geschäft, seinen Großhandel, hatte er hier im Hause. Mein Onkel war ein sehr umgänglicher Mensch, er war gern mit anderen zusammen, auch mit meinem Vater. Die gingen denn auch mal abends ein Bier trinken, hier in der Eckkneipe und da saßen dann die Männer auch mal so beim Bier mit einem Bäckermeister, einem Schlachtermeister und einem Kolonialwarenhändler, bis zu einem bestimmten Jahr, ich weiß nicht mehr so genau, wann das war, da lehnte man meinen Onkel ab. Da ging er auch nicht mehr da rein. Von da an kauften meine Eltern nicht mehr bei diesem Gewissen Schlachter oder diesem gewissen Bäcker, sondern meine Eltern gingen weit zur Marienstraße, um dort einzulaufen. Wir mieden den Schlachter und den Bäcker an der Ecke. Daß das mit meinem Onkel zu tun hatte, habe ich wohl bemerkt, aber nicht gewußt, warum. Ich kann mich nur noch erinnern, plötzlich mußte mein Onkel mit meiner Tante aus dem Haus ausziehen. Und zwar war das auf Druck von irgendwelchen, hier war ja so ein Parteibüro in der Straße, Kleine-Düwel-Straße zur Sallstraße hin, gegenüber vom Sonnenweg, und da müssen Anzeigen erfolgt sein, daß also meine Großmutter, die Hausinhaberin, da einen Juden in ihrem Haus wohnen ließ. Dann haben sie sich eine Wohnung in der Herrenstraße in der City gesucht und meine Großmutter hat die Miete meiner Tante und meines Onkels bezahlt, weil es ihnen dann geschäftlich gar nicht mehr so gut ging. Ich durfte als Kind ja meine Tante besuchen, aber ich durfte nicht mit meinem Onkel und meiner Tante hier gesehen werden. Wenn die damals noch, das war vor 1938, ehe er ganz plötzlich weg mußte, mal so am Wochenende zum Benther Berg fuhren, dann durfte ich mit, aber dann fuhr ich erst von hier mit der Straßenbahn zur Stadt, zur Herrenstraße, und von da fuhren wir dann mit dem Auto und sie haben mich auch nicht mit dem Auto vor der Haustür abgesetzt, wenn wir nach Hause kamen. Es durfte ja nicht auffallen, daß ich mit meiner Tante zusammen war und mit meinem Onkel. Irgendwie in der Nachbarschaft gab es aber Leute, die das genau wußten und meinem Vater den Vorwurf machten: „Sie lassen ihr Kind mit einem Juden zusammen“.

Der SPD Ortsverein Südstadt-Bult empfiehlt den Besuch der Ausstellung "Der Novemberpogrom 1938 in Hannover", die seit dem 5. November und noch bis zum 18. Januar 2009 im Historischen Museum in Hannover gezeigt wird. Dort ist auch der gut gestaltete Begleitband zur Ausstellung erhältlich.

36. Osterfeuer der SPD Südstadt-Bult