Liebe Schülerinnen, liebe Schüler,
liebe Eltern,
werte Kolleginnen und Kollegen,
ich hoffe, ich darf das so sagen, obwohl ich seit fast 30 Jahren nicht mehr Lehrer bin,
liebe Gäste aus der Südstadt und dem Rest der Welt,

sich zu Beginn eines neuen Jahres zusammenzufinden, um ein wenig Rückschau, vor allem aber hoffnungsvolle Vorschau zu halten, hat in der Wilhelm Raabe-Schule eine feine Tradition. Für den Bezirksrat Südstadt-Bult danke ich für die Einladung zu diesem Neujahrsempfang

und möchte ihnen alles Gute für das schon jetzt reichlich legendenumwobene Jahr 2010 wünschen.

Dieses Jahr ist, wie das vorangegangene und gewiß auch das folgende Jahr, eines der Gedenktage und Jubiläen. Der Blick auf die Jubiläumsskala von Wikipedia macht das deutlich. Frederic Chopins Geburtstag jährt sich in diesem Jahr zum 200. Mal, Robert Schumanns ebenso. Gustav Mahlers Geburtstag war vor 150 Jahren. Musikalisch wahrgenommen ist das Jahr 2010 romantisch geprägt.

Ihren 100. Geburtstag hätten in diesem Jahr Mutter Teresa feiern können und ein Mann, ohne den ich heute weder Wikipedia hätte nutzen noch auf dem Compi dieses Grußwort schreiben können: Konrad Zuse, der den ersten gebrauchsfähigen Computer erdacht und gebaut hat.

Elvis wäre vor wenigen Tagen 75 Jahre alt geworden. Vielleicht fragen Sie sich ja mit mir, welche Musiktempel er heute rocken würde. Abwegig wäre das nicht. Wahrscheinlich wäre es das Heartbreak-Hotel für Altrocker.

In der Jubiläumsliste für Verblichene verzeichnet Wikipedia den großen Virologen Robert Koch, den Vater des Roten Kreuzes, Henri Dunant, den großen russischen Moralisten Lew Tolstoi und Mark Twain, den Chronisten der großen und kleinen Alltagsbegebenheiten in den Vereinigten Staaten.

Einer fehlt in dieser Aufstellung: Der Namensgeber Ihrer Schule, Wilhelm Raabe. Dessen Todestag jährt sich in diesem Jahr zum 100. Mal. Der hat mit Mark Twain zweierlei gemein: Die Sympathie für Außenseiter und den Blick auf die Widernisse des kleinen bürgerlichen Lebens. Das verbindet ihn auch mit einem anderen großen Realisten seiner Epoche: Charles Dickens. Beide haben sich in unterschiedlicher Form mit den Folgen der Industrialisierung und den Ausformungen der aufkommenden bürgerlichen Gesellschaft beschäftigt.

War Wilhelm Raabe in den frühen Jahren seiner schriftstellerischen Tätigkeit vielleicht der Chronist bürgerlich, biedermeierlicher Idyllen, so ist er in seinem Spätwerk vor allem ein Meister der literarischen Dekonstruktion des bürgerlichen Scheins. „Kunstvoll verbrämt Wilhelm Raabe den trostlosen Stoff aus der Wirklichkeit, der so auch aus der Feder von Emile Zola oder Gerhard Hauptmann stammen könnte“, konstatierte die Literaturkritikerin Kathrin Hillgruber vor ein paar Jahren.

Sie schloß damit an die Erkenntnisse des marxistischen Denkers Georg Lukacs an, der Raabe die Beschreibung einer tief traurigen Welt voller Enttäuschungen, Entgleisungen, Untergängen und Lebenslügen bescheinigte. Aber auch hier, so Lukacs, weicht Wilhelm Raabe nicht vor der äußersten Konsequenz zurück. Er nennt die Flucht eine Flucht und das Luftschloß ein Luftschloß. Da ist er schon etwas näher dran als Thomas Mann, der Raabe großbürgerlich herablassend zu einem Propagandisten der Innerlichkeit ernannte.

Vielleicht hätte Thomas Mann ja doch die eine oder andere Sentenz von Wilhelm Raabe lesen sollen, die Ihren Namenspatron als den Realisten ausweist als der er endlich wieder gewürdigt wird. Wilhelm Raabe hat ein umfangreiches Werk hinterlassen, das wiederzuentdecken sich lohnt, auch wenn es so scheint, als wäre er ein vergessener Dichter. Ein lange verkannter Dichter war er bestimmt. Zur Einstimmung empfehle ich Raabe Erstlingswerk, „Die Chronik der Sperlingsgasse“, das er vor 150 Jahren in Berlin geschrieben hat. „Man erlebt nicht, was man erlebt, sondern wie man es erlebt“, hat Raabe schon dort subjektiv ehrlich bekundet. Für einen Schulabbrecher und gescheiterten Buchhändlerslehrling eine lebenskluge Erkenntnis.

Für alle von Euch oder von Ihnen, wie Sie es gerade wollen, sollte Wilhelm Raabe nicht unbedingt zum Vorbild gereichen, auch wenn er als Autodidakt überaus erfolgreich war. Solches soll auch heutzutage möglich sein, aber ein ordentliches Abitur kann dabei durchaus hilfreich sein. In diesem Sinne wünsche ich für die kommenden Aufgaben alles Gute und viel Erfolg und mit Wilhelm Raabe möchte ich diesen Rat loswerden. „Hoffnung und Freude sind die besten Ärzte“.

36. Osterfeuer der SPD Südstadt-Bult