Von Lothar Pollähne

Es gibt Begegnungen, die bleiben unvergessen, weil sie erleuchtend sind. Dietrich Kittner, der am 15. Februar in Bad Radkersburg in der Steiermark gestorben ist, hat mir 1969 eine solche Begegnung beschert. Er trat in der Evangelischen Studentengemeinde in Mainz auf und beleuchtete die deutsche Geschichte mit scharfen Worten und der unnachahmlichen Handhabung seiner Gitarre, die er so präzise in den Scheinwerferstrahl hielt, dass Einzelne regelrecht geblendet wurden.

Dietrich Kittner

Die sprach er dann auch noch direkt an, und das sorgte häufig für betretenes Schweigen. Wer wollte sich schon von einem Kabarettisten zu Krieg und Naziverbrechen befragen lassen. Schon damals mussten Kabarettfreunde gehörig Sitzfleisch mit in die Vorstellung bringen, denn Dietrich Kittner war ein Großmeister des gründlichen Vortrags. Noch einmal habe ich ihn in Mainz getroffen; im neuen „Unterhaus“, Hans-Dieter Hüschs Kleinkunsttempel. Selbstverständlich hatte Dietrich auch dort seine Scheinwerfernummer im Repertoire. Auch jener Abend war lang, aber das war mir egal, denn ich wohnte nur ein paar Schritte entfernt, hatte allerdings das Problem, im nicht mehr ganz nüchternen Zustand eine große Treppe zur Kupferbergterasse hinansteigen zu müssen, und das war nach jener Vorstellung nicht mehr ganz einfach. Der Abend war halt, wie es bei Kittnern üblich war, sehr lang, und die anschließenden Gespräche dauerten noch länger.

Bis ich 1974 nach Hannover kam, hatte ich keine weitere Begegnung mit Dietrich Kittner, danach jedoch umso mehr. Sein Theater lag ja direkt um die Ecke am Bischofsholer Damm. Wer dort zu spät kam, wurde nicht abgewiesen, musste aber mit einem Rasiersitz oder einem Platz in einer Nische vorlieb nehmen. Ein Rauchbier und eine Portion Schafskäse machten diesen Nachteil wett. „Theater an der Bult“ oder einfach nur „tab“ hieß Hannovers angesagter Kabarettplatz. Am Eingang im Souterrain riss der Meister selbst die Karten ab, plauderte schon mal vorab über den jeweiligen tagespolitischen Skandal und zog sich dann zur Vorbereitung hinter die Bühne zurück. Kittner hatte sein Repertoire in den Jahren um viele dauerhafte Nummern erweitert und nicht im Geringsten in Erwägung gezogen, dass Menschen auch müde werden könnten. Das hätte auch nicht an seinem Programm gelegen, denn das hat er tagesaktuell immer wieder neu erfunden.

Die unwiderruflich letzte Vorstellung im „tab“ endete, wie so viele zuvor, am frühen Morgen des folgenden Tages. Dietrich Kittner, der über viele Jahre von seinem Haus behaupten konnte, es sei zu 110 Prozent ausgelastet, hatte sich nach den vielen Jahren am Bischofsholer Damm in das ehemalige Küchengarten-Bad verliebt, führte Freunde durch die ehemaligen Dusch- und Wannenräume und hatte präzise Vorstellungen vom „Theater am Küchengarten“. Warnungen Wohlmeinender, ein Umzug aus der Bult nach Linden können nicht gut gehen, beantwortete Kittner hintergründig lächelnd. Er war vom Erfolg seiner neuen Bühne zu 110 Prozent überzeugt und hat es allen Zweiflern bewiesen. Das „tak“, wie das Theater alsbald hieß, wurde zur heißesten Adresse für Kabarett-Süchtige in ganz Norddeutschland. Auch hier gab es Nischen für Spätkunden, Rauchbier und Schafskäse und ausufernde Gespräche am Ende der Vorstellung. Glücklich, wer Karten zu einer Kittner-Premiere ergattern konnte, die manchmal nach glücklicher, intellektueller Erschöpfung mit der Suche nach einem Taxi endete, denn die Straßenbahn hatte längst Nachtruhe.

Dietrich Kittner hat angeeckt und genau das wollte er, seit er 1960 während seines Studiums in Göttingen die „Leidartikler“ gegründet hatte. 1961 meldete er in Hannover gar einen „Gewerbebetrieb für politische Satire“ an. Ab 1963 konnte Kittner in der Mehlstraße eine feste Spielstätte nutzen, die später zum ersten „Club Voltaire“ in Hannover wurde. Zu den Gründern des radikalen Ladens zählte seinerzeit Hannovers nachmaliger Oberbürgermeister Herbert Schmalstieg. Bis heute hält sich die Legende, dass der SDS-Vordenker Hans-Jürgen Krahl einen Deckel über viele hundert Brötchen, Bier und Schnäpse hinterlassen habe. Dietrich und er können ja nun im sozialistischen Teil des Jenseits Bilanz ziehen. Vielleicht donnert es ja irgendwann einmal leicht vorwärtsweisend über Hannovers Südstadt, denn dort ist Dietrich Kittner, der alte Schlesier, aufgewachsen.

Sozialist war Dietrich Kittner sein Leben lang, Sozialdemokrat nur für ein paar Jahre, aber der SPD war so viel Radikalität in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts zuviel und sie warf ihn raus. Das hat Dietrich Kittner nie daran gehindert, seine Freundschaften zu vielen Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten dauerhaft zu pflegen. Ich verneige mich vor einem großen Künstler und guten Freund und trauere mit Christel Kittner, ohne deren Engagement diese lange Episode deutschen Kabaretts nicht denkbar gewesen wäre.

Eines allerdings muss ich, nachtragend, wie ich sein kann, anmerken: Jahrelang hat mir Dietrich Kittner versprochen, seine Kurzfassung der weltwirtschaftlichen Entwicklung mit dem Titel „Und darum wird Fleischsalat auch teurer jedes Jahr“ noch einmal ins Programm zu nehmen. Gelegentlich entschuldigte er sich nach einer Veranstaltung mit dem Gemurmel: „Hab‘s vergessen, aber beim nächsten Mal ...“.

Dietrich, wir sehen uns im sozialistischen Jenseits und dann wird Fleischsalat aufgetischt ohne Wenn und Aber.

36. Osterfeuer der SPD Südstadt-Bult