Dass am 20. Juni 1913 Kaiser Wilhelm II. Hannover besuchte, um bei seinem recht kurzen Besuch an der feierlichen Einweihung des neuen Rathauses teilzunehmen, ist hinlänglich bekannt. Majestät durfte an diesem strahlenden Tag die geflunkerte Bekundung von Stadtdirektor Heinrich Tramm zur Kenntnis nehmen, das neue Haus sei bar bezahlt. Der Satz zählt mittlerweile zum Grundbestand der gültigen Lügen, aber das ist am 100. Jahrestag der Rathauseinweihung lässlich.

Das Wetter an jenem denkwürdigen Tag im Juni 1913 diente dem Hannöverschen Schriftsteller Karl Jakob Hirsch zur Titelgebung für sein Romandebüt: Am 18. Juni 1931 erschien, abgedruckt auf der Titelseite der Frankfurter Zeitung das Kapitel „Hohenzollernwetter“ aus einem „demnächst fertiggestellten Roman“. Der Roman erschien noch im selben Jahr im S. Fischer Verlag in Frankfurt mit dem Titel „Kaiserwetter“. Für Rechtsanwalt de Vries, eine der Hauptpersonen des Romans wird der 20. Juni 1913 ein Tag der Wochen zuvor mit Erstaunen begonnen hatte und während der Kaiservisite mit Gestammel endete.

„Herr Doktor, wollen Sie mal Majestät vorgestellt werden?“
„Aber Herr Stadtdirektor, nein. Das ist ja sehr liebenswürdig von Ihnen ... aber ...“
„Nee nee, de Vries, im Ernst, Sie sind was für Majestät.“
Der Rechtsanwalt dankte verbindlichst, aber das wolle er doch nicht.
„Na, dann nicht“, sagte der Stadtdirektor etwas pikiert und behandelte de Vries von nun an kühler. Das ärgerte S. de Vries. Wochenlang redete er mit Johanna darüber, die als Hamburgerin, also als Republikanerin gleichsam, wenig Verständnis dafür hatte. Sie lachte ihn aus, sagte „Schtus“ und „Schaute“, was soviel wie Unsinn und eitler Fant bedeutete. De Vries aber dachte ernsthaft darüber nach. Es ließ ihm keine Ruhe. Eines Tages ging er zum Stadtdirektor und bat ihn um die Liebenswürdigkeit, ihn Majestät bei nächster Gelegenheit vorzustellen. Die Gelegenheit war rasch gekommen. Majestät wünschte des öfteren Zivilpersonen , die sich treu und ergeben bewährt hatten, kennenzulernen. Nun stand ein Besuch des Herrschers bevor, bei dem Zünfte und Vereine dem Kaiser huldigen wollten. Da erhielt auch der Rechtsanwalt samt einer Reihe vaterländisch zuverlässiger Männer den Befehl, sich am 20. Juni, mittags elf Uhr fünfzig, auf der Freitreppe des Rathauses einzufinden. „Frack und Ordensschmuck erbeten.“

Die Tage nachdem sich de Vries durchgerungen hatte, dem Kaiser vorgestellt zu werden, waren für eine halbe Tortur. Dass er sich beim Hoflieferanten Kahlfeld einen Frack anmessen lassen musste, war dabei kein Problem. Kahlfeld war der Hausschneider und de Vries war ein Freund feinen Tuchs. Der Bitte um das Anlegen eines Fracks konnte de Vries am 20. Juni 1913 also anstandslos nachkommen. Der zweite Teil der in der Einladung ausgesprochenen Bitte bereitete dem Anwalt schlaflose Nächte. Er war nie in seinem Leben mit irgendeinem Orden ausgezeichnet worden. Nächtelang hoffte de Vries, der majestätische Besuch würde abgesagt. Selbst am Morgen jenes Jubeltages hoffte de Vries noch. Vergebens.

„Im Rathaus nahm er Aufstellung zwischen Geheimräten und Stadträten und Bürgervorstehern, unter Offizieren und biederen Handwerkern, die irgendeine Schärpe trugen, Vertreter einer Zunft, die dem Kaiser zu huldigen hatten. Er stand unter diesen Menschen und fühlte sich sehr vereinsamt.“

De Vries fühlt die Absurdität seiner Lage und möchte fliehen, aber dazu ist es nun zu spät. Eine Stunde lang muss er leiden, dann leuten die Glocken der Marktkirche, Musik ertönt und die Menschen beginnen zu schreien. Als der Kaiser endlich die Stufen zum neuen Rathaus emporschreitet dröhnt ein Marsch in de Vries Ohr. Anwalt de Vries überlegt sich, was ihn der Kaiser wohl fragen könnte und was er dann antworten würde.

Da kam der Kaiser langsam auf ihn zu. S. de Vries erstarrte, seine Hände waren längst abgefallen, lagen abgetrennt von ihm irgendwo. Eine Träne mußte sich in diesem Moment auf sein Augenglas legen, wie dumm, nein, wie dumm ...! Als er sich entschloß, die Träne fortzuwischen und zu diesem Zweck den Kneifer abnahm, sah er mit seinen kurzsichtigen Augen eine Gestalt vor sich, ein Gesicht, zwei Gesichter, eines davon blaß mit einem Riesenfederbusch auf dem Helm und zwei blauen Augen, Schnurrbartspitzen in die Höhe gezogen, rasch setzte de Vries den Kneifer wieder auf. Majestät stand vor ihm, der Stadtdirektor nannte den Namen, de Vries beugte sich tief, ganz tief, eine Hand berührte ihn, er nahm sie, schon war sie fort. Er hörte eine helle, kurze Stimme: „Gedient?“

De Vries schoß das Blut zu Kopf. Sein Schlund war trocken. Ein Laut entfuhr ihm, der sollte heißen: „Leider nein, Majestät.“ Aber ob er es wirklich gesagt hatte, wußte er nicht. Der Stadtdirektor sagte es ihm auch später nicht, niemals in seinem Leben wußte er die Antwort, die er dem Beherrscher des Deutschen Reiches gegeben hatte.

Wie im Traum gelangte de Vries in seinen Wagen. Er war wie ausgelöscht. Die Anspannung von Wochen und Monaten war vorüber. Er sank in sich zusammen, schloß die Augen. Draußen wogten die erregten Menschen an ihm vorbei. Die Absperrung war aufgehoben. Man lachte und schwatzte und drängte sich. Es war immer noch Sommerwetter, Kaiserwetter, Hohenzollernwetter.“

Mit diesen Erinnerungsfetzen hat Karl Jakob Hirsch in sympathisch hintersinniger Weise die Eröffnung des neuen Rathauses in die große Literatur gehoben und seiner Geburtsstadt Hannover eine bleibende Reverenz erwiesen. Die Liebe blieb einseitig. Kurze Zeit später, am 10. Mai 1933, verbrannten die Nazis sein „Kaiserwetter“ unterhalb der Bismarcksäule, auf dem Gebiet des heutigen Maschsees. Karl Jakob Hirsch musste emigrieren und kehrte nach der Zerschlagung des deutschen Faschismus als USAmerikaner ins zerstörte Deutschland zurück, ohne je wieder an seinen großen Erfolg aus dem Jahr 1931 anknüpfen zu können. Als er am 8. Juli 1952 in München starb, war er weitgehend vergessen. 1992 erschien eine Neuauflage des „Kaiserwetter“ im Postscriptum-Verlag der Südstädter Sozialdemokratin Swantje Hanck und noch einmal fast zwanzig Jahre sollte es dauern, bis der JMB-Verlag in Hannover neu herausbrachte. Beiden gebührt Dank für ihren Beitrag zur historisch literarischen Kultur in Hannover und zur Erinnerung an die Eröffnung „unseres“ Rathauses vor 100 Jahren.

Happy Birthday, „altes“ Haus.

Lothar Pollähne
Bezirksbürgermeister Südstadt-Bult

Photo: lopo

36. Osterfeuer der SPD Südstadt-Bult