Am Abend des 30 August 1933 wird eine Feuerwehrleiter an ein Zimmer im zweiten Geschoss der „Villa Edelweiß“ in Marienbad angelehnt. Zwei Männer kauern auf der Leiter und warten. Gegen 21.00 Uhr betritt Theodor Lessing das Zimmer, um einen Artikel fertig zu schreiben. Als er wenig später an seinen Sekretär tritt, um den Artikel für den Postversand zu kuvertieren, wird Lessing von den auf der Leiter wartenden Männern beschossen. Die Schüsse sind tödlich.

Am 31. August 1933 stirbt Theodor Lessing in einem Marienbader Krankenhaus. Nach jahrelanger Hetzjagd haben die Nazis den verhassten Professor aus Hannover „zur Strecke gebracht“.

Lessing? Warum Lessing? Wer war Lessing?

Theodor Lessing wird am 8. Februar 1872 als Sohn des praktischen Arztes Sigmund Lessing und der vermögenden Bankierstochter Adele Lessing in einem roten Backsteinhaus in der Georgstraße 39 in Hannover geboren. Schon vor dessen Geburt hasst der Vater das Kind, da er zwar die Mitgift von Theodors Mutter liebte, nicht jedoch die Mutter. Kindheit und Jugend müssen der reine Horror gewesen sein. „Der Vater immer in Geschäften; die Mutter immer in Vergnügungen“, erinnert sich Lessing später. Der Vater verprasst die Mitgift seiner Frau. Dennoch kann die Familie 1880 in eine repräsentative Villa in der Hildesheimer Straße 17 ziehen.

Ebenso bedrückend wie seine Kindheit empfindet Theodor Lessing jedwede Form von Schule. Die „Menschenverdummungsanstalt“, wie er sie nennt, langweilt und quält ihn. Als er 1888 einmal mehr das Schulpensum nicht schafft, wird Theodor Lessing auf Rat seines Großvaters zur Lehre in das Bankhaus Moritz Simon geschickt. Das kann nur schiefgehen. Das Abitur macht Lessing schließlich 1892, nachdem er ein strenges Internat in Hameln durchlaufen hat. Das ist nicht etwa das Ende aller Qualen, denn Theodor beginnt auf Geheiß seines Vaters ein Medizinstudium. Das entspricht nicht seinen Neigungen. der junge Mann interessiert sich für Philosophie und Literatur.

1895 bricht Theodor Lessing in München sein Medizinstudium ab, um Psychologie, Philosophie und Literatur zu studieren. Unter dem Einfluss des Literatenkreises um Stefan George unternimmt Lessing erste Gehversuche auf dem literarischen Parkett. 1899 wird Theodor Lessing in Erlangen zum Dr. phil. promoviert. In diesem Jahr lernt er seine erste Frau Maria Stach von Goltzheim kennen, die er ein Jahr später heiratet. Die Töchter Judith und Miriam kommen 1901 und 1902 zur Welt. Zur Sicherung des Lebensunterhalts verdingt sich Theodor Lessing als Lehrer an das Reforminternat im thüringischen Haubinda.

Nach dem Scheitern der Ehe arbeitet Theodor Lessing als Theaterkritiker in Göttingen, wo er sich 1907 bei Edmund Husserl habilitiert. 1909 zieht es Theodor Lessing nach Hannover zurück, wo er als Privatdozent für Pädagogik und Philosophie an der Technischen Hochschule arbeitet. Lessing nimmt Wohnung in der Stolzestraße 12a (Heute 26) und gründet den „Anti-Lärm-Verein“, für den er die „Monatsblätter zum Kampf gegen Lärm, Roheit und Unkultur im deutschen Wirtschafts-, Handels- und Verkehrsleben“ mit dem Titel „Der Anti-Rüpel“ herausgibt. Das trägt ihm das Spottprädikat „Der Lärmprofessor“ ein.

1912 heiratet Theodor Lessing seine langjährige Freundin Ada Abbenthern. Trotz der weit verbreiteten Kriegseuphorie wagt es Lessing im Wintersemester 1914/15, an der TH Hannover pazifistische Vorlesungen abzuhalten. Gleichzeitig beginnt er mit der Arbeit an seinem philosophischen Hauptwerk „Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen“.

Nach dem Ende des 1. Weltkriegs wendet sich Theodor Lessing vorwiegend der Schriftstellerei zu. Er wird Mitglied der Theaterorganisation „Freie Volksbühne“, für deren Mitteilungsblatt er regelmäßig Beiträge verfasst. 1920 gründet der Rastlose mit seiner Frau Ada die „Freie Volkshochschule“ in Linden und zieht wieder in die Südstadt, dieses Mal in die Stolzestraße 47 (heute 23). 1922 wird Lessing außerordentlicher Professor an der TH Hannover. Seinen Lebensunterhalt allerdings verdient mit Essays und Feuilletons.

Großes Aufsehen erregt Theodor Lessing mit seiner Berichterstattung über den „Haarmann-Prozess“, in der er heftige Kritik an der Polizei und der Justiz übt. 1925 erscheint Lessings „Geschichte eines Werwolfs“. Als er am 25. April desselben Jahres im „Prager Tagblatt“ ein psychologisch-wissenschaftliche Porträt des nationalkonservativen Präsidentschaftskandidaten Paul von Hindenburg veröffentlicht, wird Theodor Lessing endgültig zum Hassobjekt. Antisemitische, nationalsozialistisch gelenkte Corpsstudenten entfesseln eine Hetzkampagne gegen Lessing, die 1926 „Erfolg“ hat. Lessing muss seine Lehrtätigkeit an der TH Hannover einstellen.

Theodor Lessing bleibt weiterhin sperrig, auch seiner eigenen Partei gegenüber, der er seit 1905 angehört. Als er Mitte der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts erklärt, die SPD kenne nur die „heilige Herrschaft der Gewerkschaftssekretäre“ , droht ihm der Parteiausschluss. Lessing darf bleiben, was vielleicht daran liegt, dass seine Frau Ada mittlerweile in der Parteiarbeit aktiv ist. Lessing arbeitet vermehrt für die Volkshochschule, schreibt weiterhin für das Prager Tagblatt und hält Vorträge über die drohenden Gefahren der völkisch-nationalen-antisemitischen Bewegung.

Am 1. März 1933 flüchtet Theodor Lessing nach Prag. Am 30. August desselben Jahres wird er in Marienbad von sudetendeutschen Nazis ermordet. Begraben wird Theodor Lessing am 2. September 1933 auf dem jüdischen Friedhof in Marienbad. Die Marienbader Arbeiter bringen einen Nelkenstrauß, Mitglieder der sozialistisch-zionistischen Organisation „Poale Zion“ dekorieren das Grab mit einer Dornenkrone mit roter Schleife und ein Unbekannter legt einen Rosenstrauch nieder, versehen mit einem Zettel auf dem zu lesen ist: „Dem Menschenfreund, dem Kämpfer für den Frieden der Menschheit und dem Märtyrer die letzten Grüße. Ein Reichsdeutscher im Namen von Millionen Genossen“.

An seinem letzten Aufenthaltsort, der Villa Edelweiß, erinnert eine Tafel an den streitbaren Sozialdemokraten Theodor Lessing

Von Lothar Pollähne


Abb. Theodor Lessing. Mit freundlicher Genehmigung der „Gundlach-Stiftung Hannover“

36. Osterfeuer der SPD Südstadt-Bult