Am 10. November 1938 wurden auch in der Südstadt Wohnungen zerstört und Menschen gequält und in Konzentrationslager verschleppt.

Von Lothar Pollähne

Am 9. November 1938 gegen Mitternacht erscheint der Hannoversche SS-Chef Kurt Benson im Konzerthaus am Hohen Ufer, um an der Aufnahme von HJ-Mitgliedern und Polizisten in die SS teilzunehmen. Zur gleichen Zeit hält sich Bensons Chef, SS-Obergruppenführer Friedrich Jeckeln, in der Hannoverschen SS-Zentrale am heutigen Königsworther Platz auf.

Jeckeln hat bereits am Nachmittag des 9. November den Polizeipräsidenten instruiert, dass eventuelle, gegen die Synagoge gerichtete Aktionen polizeilicherseits zu ignorieren seien. In der Hannoverschen SS-Zentrale wird jenes Terror-Kommando zusammengestellt, das kurz nach Mitternacht die Synagoge in der Bergstraße in Brand steckt. Als die SS-Verbände nach der Veranstaltung im Konzerthaus am 10. November gegen 1:30 Uhr an der Synagoge eintreffen, brennt diese bereits lichterloh. Die SS-Verbände bilden einen Absperrungsring um die Synagoge, den sie um 3:00 Uhr auflösen, um sich danach zielgerichtet an die Zerstörung und Plünderung jüdischer Geschäfte und Wohnungen zu machen und erste Verhaftungen Hannoverscher Juden vorzunehmen.

Auch in Hannovers Südstadt wüten uniformierte Nazi-Truppen. Besonders betroffen sind die Häuser in der Wißmannstraße 11 und 13, in denen nur jüdische Familien leben, unter ihnen Ernst und Maria Kleeberg mit ihrer Tochter Ruth. Im Gespräch mit Matthias Horndasch beschrieb Ruth Gröne im Jahr 2006 die Ereignisse jenes Tages.

„Wir wohnten damals in der hannoverschen Wißmannstraße Nr. 11, einem Haus, in dem nur Juden wohnten und das der jüdischen Heineman-Stiftung gehörte. Dort lebten hauptsächlich ältere Leute, weshalb es dort sehr ruhig war und auch ich mich immer besonders brav benehmen musste. An jenem Tag aber, dem 9. November 1938 (hier irrt sich Ruth Gröne um einen Tag), war alles anders: Alle Wohnungstüren standen offen, alle Radioapparate waren eingeschaltet, es war eine Hektik und Unruhe im Haus, und alle Bewohner schienen verängstigt zu sein. Meine Mutter saß mit mir in der Küche. Sie hatte mich auf den Schoß genommen und zitterte am ganzen Leib. Für ein kleines Kind ist es natürlich besonders beängstigend, wenn es spürt, dass die Eltern Angst haben. Meine Vater, der sowohl für unser wie auch für das Nachbarhaus Nr. 13 als Hausmeister tätig war, lief ständig hin und her und sah aus dem Fenster, bis er schließlich rief: „Sie kommen!“ In dem Moment kam ein Auto vorgefahren und kurz darauf hörte ich, wie in allen Wohnungen fast gleichzeitig die Schellen läuteten, weil unten wohl sämtliche Klingeln der Hausanlage gedrückt worden waren.

In seiner Funktion als Hausmeister war es mein Vater, der alle seinen Mut zusammennehmen und ihnen aufmachen musste. Kaum waren sie im Haus, da hörte man schon die ersten schrecklichen Geräusche; es klapperte und klirrte. Sie arbeiteten sich allmählich durch das ganze Haus, bis sie schließlich bei uns in der obersten Etage anlangten und zu uns hereinkamen. Noch heute frage ich manchmal, was für eine Uniform die damals trugen, aber ich kann es beim besten Willen nicht mehr sagen. War sie schwarz, war sie braun, war sie grün? Ich weiß es nicht mehr! ich erinnere mich nur an große schwarze Stiefel. Ich war noch so klein und habe deshalb nur ihre großen, langen schwarzen Stiefel gesehen, die auch deshalb so beängstigend wirkten, weil sie mit denen so laut auftraten.

Sie gingen also nun durch unsere Wohnung und beäugten jeden Gegenstand. Da die Judenverfolgung indirekt schon 1933 begonnen hatte, hatten meine Eltern zwischenzeitlich eine Gütertrennung vorgenommen, sodass das ganze Inventar mittlerweile allein meiner Mutter gehörte. Darüber hatte sie auch eine amtliche Bescheinigung, die auf dem Küchentisch lag und die sie denen jetzt vorzeigte. Im Großen und Ganzen wurde die Bescheinigung wohl auch akzeptiert, denn sie machten bei uns nichts kaputt, nahmen stattdessen aber verschiedene Dinge einfach mit. Darunter war insbesondere unser schönes neues Blaupunkt-Radio, das für mich etwas ganz Besonderes war. Man muss sich das, auf die heutige Zeit übertragen, so vorstellen, als würde einer Familie der Fernseher weggenommen. Meinem Vater nahmen sie noch den Fotoapparat weg, meiner Mutter ihren Schmuck, und niemand konnte sie daran hindern. Verhaftungen gab es in unserem Haus nicht, und irgendwann, nach meinem damaligen Empfinden nach einer Ewigkeit, zogen sie dann wieder ab.“

Ruth Gröne, Spuren meines Vaters, Das Zeitzeugnis der Ruth Gröne, geb. Kleeberg. Zusammengestellt und bearbeitet von Matthias Horndasch, Schriftenreihe der Mahn- und Gedenkstätte Ahlem - Band 5, Hrsg. Region Hannover, 2006

1941 wird Familie Kleeberg zusammen mit anderen jüdischen Familien aus der Wißmannstraße vertrieben und nach kurzer Zwischenunterkunft in der Sedanstraße in einem Lager in der Ohestraße eingepfercht. Auch Ruth Grönes Großeltern Frieda und Hermann Kleeberg, die ebenfalls in der Wißmannstraße gewohnt hatten, werden in die Ohestraße gebracht. Während Ernst, Maria und Ruth Kleeberg im Oktober 1941 in die Herschelstraße umziehen müssen, bleiben die Großeltern in der Ohestraße. Von dort werden Frieda und Hermann Kleeberg am 15. Dezember 1941 nach Riga deportiert, wo sie ermordet werden.

Ruth Grönes Vater Ernst wird am 5. Februar 1945 ins Konzentrationslager Neuengamme deportiert. Die letzte Leidensstation Ernst Kleebergs ist das Lager Sandbostel bei Bremervörde. Dort stirbt er kurz vor der Zerschlagung des Nazireiches, nach Folterung und Auszehrung entkräftet, an einer Typhuserkrankung. Ernst Kleeberg wird in einem Massengrab in Sandbostel verscharrt.

Margot Borchers, eine andere kleine Südstädterin, erinnert sich 1979 an den 10. November 1938.

„Als ich sieben Jahre alt war, ich ging damals in die Hannoversche Musterturnschule, damals Loges-Schule, zur Volksschule Altenbekener Damm, da hatten wir Turnstunde nachmittags und das war also an diesem berühmten Tag nach der Reichskristallnacht 1938, ich kam mit einer Freundin durch die Wißmannstraße in Richtung Karl-Peters-Platz nach Hause. Das fanden wir irgendwie interessant, daß da im Hintergrund was los war, wir sahen da also so Schupos mit Pickelhauben und dann welche, die hatten braune Anzüge an, und dann waren auch welche in schwarz da, als Kinder wußten wir nicht, was das für Leute waren, und da standen so große Lastwagen und auf der rechten Seite, die letzten zwei Häuser vorm Karl-Peters-Platz, das war fürchterlich, da lagen Scherben vor den Häusern, die Fenster waren eingeschlagen, da standen große Standspiegel auf dem Vorgarteneingang zum Haus. Auf den Spiegeln hatten sie solche Sterne gemalt, als Kinder wußten wir nicht, was das war, und dann stand da ein Ehepaar und die hielten sich beide so umklammert und weinten. Und als die Polizisten merkten, wir Kinder blieben stehen und guckten uns dieses Theater da an, da hat einer uns auf die andere Straßenseite geschickt, obwohl wir da gar nicht zu gehen brauchten, und wir mußten also dann so weitergehen bis zum Karl-Peters-Platz. Irgendwie hatte ich das Gefühlt hier stimmt was nicht, wenn man so sieben Jahre alt ist, dann findet man das eigenartig, solch ein Umzug mit Polizei, wenn man umzieht, das war mir irgendwie unerklärlich. Und als ich dann nach Haus kam, da habe ich dann meiner Mutter gesagt, was ich da gesehen hatte und da hat sie nur, daran kann ich mich heute noch erinnern, gesagt, also was du da gesehen hast, das vergiß mal ganz schnell und sprich mit niemandem darüber.“

Margot Borchers im Gespräch mit Lothar Pollähne, Zeitschrift „umbruch, Januar 1979“

Margot Borchers Onkel Erich Falk lebt in jenen Tagen in einem sogenannten „Judenhaus“ in der Herrenstraße 6. Dort wartet er auf seine Einreiseerlaubnis nach Paraguay. Dass er dort angekommen ist, ist wahrscheinlich, aber nicht gesichert. Am 10. November jedoch wird er nicht verhaftet und verschleppt wie über 300 andere Hannöversche Juden.

Aus der Südstadt und der Bult werden am 10. November 1938 acht Männer verhaftet und verschleppt.

1. Der Kaufmann und Revisor Berthold Blumenberg, seinerzeit wohnhaft in der Bodenstedtstraße 9, wird am 15. Dezember 1941 nach Riga deportiert und dort ermordet.

2. Der Schlachter Max Davidsohn, seinerzeit wohnhaft in der Baumstraße 16, stirbt am 22. April 1941 in Hannover und wird anonym auf dem Jüdischen Friedhof in Bothfeld begraben.

3. Der Kaufmann und Kaltleimfabrikant Hermann Heine, seinerzeit wohnhaft in der Bandelstraße 28, wird am 2. April 1943 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.

4. Der Autozubehörhändler Alfred Horn, seinerzeit wohnhaft am Bischofsholer Damm 47, hat eventuell in Hannover überlebt.

5. Der Baumeister Fritz Loewe, seinerzeit wohnhaft in der Memeler Straße 16, konnte am 29. November 1938 nach Uruguay emigrieren.

6. Der Werbemittelkaufmann Fritz Mendelsohn, seinerzeit wohnhaft in der Annenstraße 13, hat eventuell in Hannover überlebt.

7. Der Kaufmann Bernhard Natt, seinerzeit wohnhaft in der Stolzestraße 12, konnte 1939 in die USA emigrieren.

8. Der Angestellte Daniel Stein, seinerzeit wohnhaft in der Baumstraße 16, wurde am 15. Dezember 1941 nach Riga deportiert und dort ermordet.

Wißmannstraße 11
Wißmannstraße 11
Stolpersteine für Ernst, Frieda und Hermann Kleeberg vor dem Haus Wißmannstraße 11
Stolpersteine für Ernst, Frieda und Hermann Kleeberg vor dem Haus Wißmannstraße 11

Photos: lopo

36. Osterfeuer der SPD Südstadt-Bult