Der „Schlüsselbau der architektonischen Moderne“ steht nicht in einer Weltmetropole, sondern in der niedersächsischen Provinz. 1911 entwirft ein junger, noch unbekannter Architekt eine Schuhleistenfabrik in Alfeld an der Leine. Sein Name: Walter Gropius. Bauherr und Firmengründer dieser Fabrik, des Fagus-Werkes, ist Carl Benscheidt, immerhin „schon“ 52 Jahre alt, dessen moderne Unternehmensphilosophie den freigeistigen Ideen des damals 28jährigen Jungarchitekten entgegenkommt.

Dieser hatte im gleichen Jahr in einer Rede erklärt (Zitat): „ Der Arbeit müssen Paläste errichtet werden, die dem Fabrikarbeiter, dem Sklaven der modernen Industriearbeit, nicht nur Licht, Luft und Reinlichkeit geben, sondern ihn auch etwas spüren lassen von der Würde der gemeinsamen großen Idee“. Gemeinsam entwickeln Benscheidt und Gropius ihre Vorstellungen einer modernen Fabrik, die zudem direkt an der Eisenbahnlinie Hannover-Alfeld-Kassel liegen soll. So entsteht 50 km südlich von Hannover, eine runde halbe Bahnstunde entfernt, mit dem Fagus-Werk ein Bau, der als einer der Ursprünge moderner Architektur gilt. 100 Jahre später erklärt die UNESCO das Gebäude zum Weltkulturerbe. Weltweit ist das Fagus-Werk die einzige Welterbestätte, die noch in vollem Betrieb ist.

Der erste Eindruck beim Betreten des Geländes lautet: das Gebäude ist ein Meisterwerk aus Glas, Stahl und Stein! Klare Linien, gläserne Fassaden, eine lichtdurchflutete Produktionshalle begeistern die Teilnehmer bereits, ohne daß ihnen Details über die architektonischen Spuren von Walter Gropius bekannt sind. Diese erfährt die Gruppe dann im Rahmen einer Führung durch Herrn Enkerts, einem Mitarbeiter des Fagus-Werkes. Zum einen geht dieser auf den Firmengründer Carl Benscheidt ein, einen mutigen Mann, am Menschen interessiert, aber auch „ein Pfennigfuchser“, zum anderen auf den Architekten und den Bau selbst. Hier zeigt sich die Genialität von Walter Gropius und seinem Mitarbeiter Adolf Meyer: seien es die gläsernen Vorhangfassaden, die klare kubische Form, die Gestaltung der Stahlträger (der „Gropius-Knoten“) oder die freischwebenden Treppen, die Lampen, die Türklinken. Man sieht sich nicht satt!

Das gleiche gilt auch für den Rundgang in die Produktionshalle, wo anhand von Modellen sowohl aus Buche (Fagus!) als auch aus Plastik die Herstellung von Schuhleisten und ihre Bedeutung bei der Schuhproduktion erklärt wird. Gespickt mit Zitaten und Liedern („im Keller ist es duster, da wohnt der arme Schuster“) gestaltet sich der Vortrag sehr kurzweilig. Mittlerweile hält das Unternehmen Fagus-GreCon durch die Produktion von modernen Messtechnik- und Brandschutz-Systemen den größten Teil der 360 Arbeitsplätze, während die Schuhleistenproduktion nicht mehr als Hauptmerkmal gilt.

In der Produktionshalle, dem Herzstück des „lebenden Denkmals“ ist heute ebenfalls ein Ausbildungszentrum untergebracht. An manchen Abenden finden dort, im ursprünglichen „Palast der Arbeit“ von Walter Gropius und seinem Auftraggeber Carl Benscheidt, auch Kunst und Kultur statt.

Daß die Gastronomie des Fagus-Werkes wider Erwarten geschlossen hat, führt nur kurzzeitig zu Irritationen. So findet die intensive Abschluß-Besprechung des Gesehenen und Erlebten erst eine runde halbe Bahnstunde später, 50 km nördlich von Alfeld, auf dem Weinmarkt in Hannover statt.

Margitta Schuermann

36. Osterfeuer der SPD Südstadt-Bult