Im Herbst 1986 wird in Hannover, weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit, auch der sozialdemokratischen, Willy Strzelewicz zu Grabe getragen. Seine schlichte Grabstätte befindet sich auf dem Stadtfriedhof Engesohde im Feld 47. Heute ist Willy Strzelewicz so gut wie vergessen, dabei spielt er in der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, der demokratischen Nachkriegserziehung und der damit zusammenhängenden Entwicklung der Erwachsenenbildung eine herausgehobene Rolle.

Wer also war Willy Strzelewicz?

Geboren wird Willy Strzelewicz am 23. Oktober 1905 in Berlin. Er wächst im Dresdner Stadtteil Striesen auf, wo auch Herbert Wehner 1906 das Licht der Welt erblickte. Beide kennen sich nicht und stoßen erst in der Emigration in Schweden aufeinander, was für die SPD nicht ohne Folgen bleiben soll. Willys Eltern sind in Dresden als linke Sozialdemokraten und Kriegsgegner bekannt. Zum Ende des Ersten Weltkrieges schließen sie sich dem Spartakusbund an und werden nach der Revolution Mitglieder der KPD. Das prägt Willy Strzelewicz, der schon als Gymnasiast Mitglied des Kommunistischen Jugendverbandes wird und später der KPD beitritt.

Auch als Student bleibt Strzelewicz der KPD treu. Er studiert in Dresden, Wien, Berlin und schließlich in Frankfurt Soziologie, Philosophie und Psychologie. In Frankfurt wird er 1931 im Fach Soziologie promoviert. Seine akademischen Lehrer sind Paul Tillich, Max Wertheimer, Karl Mannheim und sein Doktorvater Max Horkheimer. Nach der Promotion wird Willy Strzelewicz Mitglied des „Instituts für Sozialforschung“, der international bedeutendsten sozialwissenschaftlichen Forschungseinrichtung.

Wie die meisten Mitglieder des Instituts für Sozialforschung muss Willy Strzelewicz vor den Nazis flüchten. Der zweifelnde Kommunist schließt sich im Exil in Prag der Sozialdemokratie an. Sein Verständnis von Sozialismus, Demokratie und Menschenrechten kann er mit der „korrektenLinie Moskauer Prägung“ nicht mehr auf eine Linie bringen. Als sich Nazi-Deutschland 1938 die Tschechoslowakei einverleibt, muss Willy Strzelewicz wieder fliehen. Über Estland, Dänemark und Island gelangt er nach Norwegen, wo er 1940 wieder die Flucht ergreifen muss. Vor den Nazi-Besetzern flieht er nach Schweden, das ihm zur zweiten Heimat wird.

Nach fast zehn Jahren auf der Flucht kann Willy Strzelewicz in Schweden endlich wieder wissenschaftlich arbeiten. Er beschäftigt sich mit Untersuchungen zur Rolle der industriellen Technik in der sozialen und politischen Entwicklung westlicher Gesellschaften, die erst 1964 ihren Niederschlag in der der Veröffentlichung der Analyse des Verhältnisses von „Industrialisierung und Demokratisierung“ finden sollen. In Schweden sorgt ein anderes Werk von Willy Strzelewicz für Aufsehen: „Der Kampf um die Menschenrechte“, in dem er „fünf Angriffsstöße“ gegen die Menschenrechte definiert: „Konservatismus und Romantik, Marxismus, Biologismus, Totalitarismus und Positivismus“.

Willy Strzelewicz ist zu dieser Zeit einer der führenden Mitglieder der deutschen sozialdemokratischen Exilanten in Schweden. Gemeinsam mit Willy Brandt gibt er das Organ des „Arbeitskreises demokratischer Deutscher“, die „Sozialistische Tribüne“ heraus, die als eines der wichtigsten Organe der Auslands-Sozialdemokratie anzusehen ist. Peter Weiß beschreibt in seinem epochalen Werk „Ästhetik des Widerstands“ das intellektuelle Treibhaus, das sozialistische und kommunistische Emigranten in Stockholm für kurze Zeit erreichten konnten. Der Versuch, eine Einheitsfront aufzubauen scheitert, wahrscheinlich weil die Zeitläufte dies nicht mehr zulassen, vor allem aber, weil die Akteure zu unterschiedlicher Herkunft und politischer Orientierung sind. Peter Weiß, der diesem Kreis angehört, nennt die Sozialisten Willy Brandt, Fritz Bauer, Willy Strzelewicz und Bruno Kreisky, die Kommunisten Karl Mewis, Max Seydewitz und Paul Verner und die Wissenschaftlerinnen und Kulturschaffenden Lise Meitner, Paul Friedländer und Max Tau. Alle übernehmen nach der Zerschlagung des Nazi-Faschismus wichtige Aufgaben im aufzubauenden Nachkriegs-Europa.

Ein Name fehlt in diesem erlauchten Kreis: Herbert Wehner. Der ist zwar bereits 1941 im Auftrag der KPD aus dem Moskauer Exil nach Schweden geschickt worden, wird dort jedoch als feindlicher Ausländer inhaftiert und kann so kaum Kontakt zu anderen Flüchtlingen aufnehmen. Wehner beginnt, sich vom doktrinären Kommunismus zu lösen, liest „Sonnenfinsternis“, Artur Koestlers große Abrechnung mit dem Stalinismus und er stößt auf Willy Strzelewicz’ Werk „Der Kampf um die Menschenrechte“. Wehner ist beeindruckt von Strzelewicz’ Auseinandersetzung mit dem Thema Marxismus und Menschenrechte und findet darin seine eigenen Zweifel dargelegt. Vor allem beeindruckt ihn, dass Strzelewicz beschreibt, wie „anstelle der alten Klassen neue soziale Gruppen und Schichtungen sichtbar werden“. Das bringt für Herbert Wehner das Dilemma der „Diktatur des Proletariats“ auf den Punkt, an dem er sich nicht nur innerlich, sondern offen vom Parteikommunismus löst.

In einer längeren Unterredung mit Willy Strzelewicz äußert Wehner nach den Erfahrungen des Moskauer Asyls „moralische Empörung über die Parteimoral“ und Strzelewicz spürt, dass sich Wehner “innerlich von der KP gelöst und aufgehört hatte, ein Kommunist zu sein“. Wehner weiß nur noch nicht, wohin er will. Diese Unterredung darf getrost als Wehners Eintrittsbillet in die Sozialdemokratie betrachtet werden. Als Herbert Wehner 1946 nach Deutschland zurückkehrt, wird er in Hamburg in die SPD aufgenommen, wo er als Journalist tätig wird und 1947 jenes Buch nach dem Originaltext auf deutsch herausgibt, das ihn in Schweden so beeindruckt hat: „Der Kampf um die Menschenrechte“ von Willy Strzelewicz.

Der ist noch weit davon entfernt, in das Land zurückzukommen, aus dem er 1933 aus Angst um sein Leben hatte flüchten müssen. Erst 1955 kehrt Willy Strzelewicz mit seiner Familie auf Bitten alter Genossinnen und Genossen aus dem schwedischen Exil nach Deutschland zurück und übernimmt in Göttingen den Aufbau des ersten Sekretariats für Erwachsenenbildung an einer deutschen Universität. Dies begründet die Weiterbildung an deutschen Universitäten. 1958 übernimmt Willy Strzelewicz in Frankfurt am Main die Leitung der Pädagogischen Arbeitsstelle des Deutschen Volkshochschulverbandes und sorgt damit für die Öffnung der Universitäten für die Erwachsenenbildung.

Willy Strzelewicz kämpft 1965 in einer Untersuchung gegen „Das Vorurteil als Bildungsbarriere“ und gibt ein Jahr später mit Anderen die für die Erwachsenenbildung bahnbrechende Studie „Bildung und gesellschaftliches Bewußtsein“ heraus. Zu dieser Zeit ist er bereits seit sechs Jahren Professor für Soziologie an der Pädagogischen Hochschule in Hannover. 1968 wird Strzelewicz Honorarprofessor an der damaligen Technischen Universität Hannover. Sein zentrales Thema ist der Prozess der Demokratisierung in allen gesellschaftlichen Bereichen: in den Familien, den Schulen, den Universitäten und den Fabriken. Dieser Prozess ist bis heute nicht abgeschlossen. Daran zu erinnern geziemt sich zum 110. Geburtstag des vergessenen demokratischen Sozialisten Willy Strzelewicz.

Grabstein Strzelewicz, Foto: lopo
Grabstein Strzelewicz Foto: lopo

In seinen letzten Lebensjahren beschäftigt sich der unermüdliche Aufklärer und Verfechter der Menschenrechte mit der Alterung der Gesellschaft und den sozialen Folgen für das Zusammenleben. Willy Strzelewicz’ für manche überraschende Erkenntnis ist bis heute wegweisend: „Wer das Alter hat, dem gehört die Zukunft. Willy Strzelewicz ist am 25. Oktober 1986, zwei Tage nach seinem 81. Geburtstag, in Hannover gestorben.

Willy Strzelewicz Foto: Rita Lohr
Grabstein Strzelewicz Foto: lopo

36. Osterfeuer der SPD Südstadt-Bult