Am 15. April 1970 erschüttert ein Beben die ehrpusselige Bonner Republik, dessen Schwingungen bis heute nachwirken. Den Plenarsaal des Bundestages betritt die niedersächsische Abgeordnete Lenelotte von Bothmer. Zum Entsetzen der übergroßen männlichen Mehrheit und wohl auch der Mehrheit der weiblichen Minderheit „verstößt sie gegen den Dresscode und trägt einen Hosenanzug.

Damit geht Lenelotte von Bothmer in die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ein, und zwar nicht nur als Fußnote, wie Kritiker meinen. Im Ausland wird ihr Auftritt als Zeichen deutscher Emanzipation gewertet. Manchen Mode-Medien gilt Lenelotte von Bothmer gar als Ikone. Sie selbst erinnert sich nüchtern: „Ich war mit einem Schlag in aller Munde. Nicht weil ich klug oder weitblickend gehandelt oder geredet hatte, nein, weil ich einen Hosenanzug getragen hatte. Überwältigend erlebte ich, was Menschen heute berühmt macht.“ Die Hosenrolle ist Lenelotte von Bothmer eigentlich nicht auf den Leib geschrieben, denn sie trägt lieber Röcke, aber die Ankündigung des Bundestagsvizepräsidenten Richard Jaeger (CSU), er werde keiner Frau im Hosenanzug das Betreten des Plenarsaal gestatten, erzürnt sie ungemein. Der Vorschlag, Jaegers Unverfrorenheit angemessen zu beantworten, stammt nicht von Lenelotte von Bothmer sondern von der FDP-Abgeordneten Liselotte Funcke, die sich jedoch figürlich nicht in der Lage sieht, mit einem Hosenanzug aufzutreten. Das ist heute überhaupt kein Thema mehr.

Lenelotte von Bothmer ist trotz ihrer 54 Lebensjahre Parlamentsneuling und also Hinterbänklerin. Geboren am 27. Oktober 1915 als Helene-Charlotte Wepfer in Bremen, studiert sie Germanistik, Anglistikund Geschichtswissenschaften in Berlin und Tübingen und arbeitet eine Zeit lang als Lehrerin an einer Frauenfachschule. 1939 heiratet sie den Lehrer und Gutserben Hermann von Bothmer, mit dem sie sechs Kinder hat. Gleich nach der Zerschlagung von Nazi-Deutschland tritt Lenelotte von Bothmer der SPD bei und wirkt als Dolmetscherin bei der britischen Militärregierung. Danach widmet sie sich der Erwachsenenbildung. In der SPD ist Lenelotte von Bothmer im Vorstand des Bezirksvorstandes Hannover aktiv und im Parteirat der Bundespartei. Von 1966 bis 1967 gehört sie dem Niedersächsischen Landtag an.

1969 zieht Lenelotte von Bothmer über die niedersächsische Landesliste der SPD in den Deutschen Bundestag ein. Ein Direktmandat bleibt ihr in der gut zehnjährigen Parlamentszeit verwehrt. Die Direktmandate sind den „Platzhirschen“ vorbehalten, die ihr „gnädig“ einen sicheren Listenplatz gewähren. Erst 1988 tritt in der SPD ein Quotenbeschluss in Kraft, demzufolge mindestens ein Drittel aller Mandate und Kandidaturen Frauen vorbehalten werden müssen. Da ist Lenelotte von Bothmer allerdings schon seit acht Jahren nicht mehr Bundestagsabgeordnete.

Lenelotte von Bothmer ist schon in ihrer ersten Parlamentsperiode ausgesprochen eigenwillig. Kaum in Bonn angekommen, will sie partout Mitglied im Auswärtigen Ausschuss werden, aber der Partei-Altvordere Carlo Schmid empfiehlt ihr, in den Wohnungsbauausschuss zu gehen und erklärt der verblüfften Parlamentsnovizin: „Das ist für eine Frau etwas sehr Befriedigendes.“ Lenelotte von Bothmer kann sich teilweise durchsetzen und braucht sich nicht mit dem Wohnungsbau zu beschäftigen. Stattdessen wird sie Mitglied im Ausschuss für Bildung und Wissenschaft und im Petitionsausschuss.

Am 14. Oktober 1970 geht Lenelotte von Bothmer abermals in die Geschichte des Deutschen Bundestages ein. Als erste Frau tritt sie in ihren inzwischen legendären Hosenzug gekleidet ans Rednerpult des „Hohen Hauses“ und löst eine Reaktion aus, die heute als „Shitstorm“ bezeichnet würde. „Sie sind ein unanständiges, würdeloses Weib“, heißt es in Briefen oder: „Sie sind eine ganz disziplinlose Person! Hoffentlich werden wir Sie im nächsten Bundestag nicht mehr sehen!“ Dieser populistische Wunsch geht zum Glück nicht Erfüllung. In ihrer zweiten Parlamentsperiode rückt Lenelotte von Bothmer tatsächlich in den Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten ein und widmet sich der Friedenspolitik und dem Kampf gegen die Apartheid. Damit eckt sie in der Fraktion an. „Das nennt die Außenpolitik“, muss sie sich vom Chef der Kanalarbeiter anhören. Der heißt Egon Franke und kommt wie Lenelotte von Bothmer aus Hannover.

In der Mitte ihrer dritten Legislaturperiode fasst Lenelotte von Bothmer den Entschluss, ihre parlamentarische Laufbahn zu beenden. „Noch einmal bei meinen sturen Niedersachsen, die mich nach wie vor nicht für voll nahmen, um eine Kandidatur buhlen zu - nein. Das erschien mir entwürdigend.“ Die niedersächsischen Genossen werden diesen Entschluss mit Erleichterung aufgenommen haben. Politisch inaktiv bleibt Lenelotte von Bothmer allerdings nicht. Nach ihrem Ausscheiden aus dem Bundestag arbeitet sie als Schriftstellerin, schreibt Bühnenstücke und humorvolle Feuilletons. Bis 1981 ist sie als Präsidentin der „Deutsch-Arabischen-Parlamentariergruppe“ tätig, die sie 1976 gegründet hatte. Bis 1983 ist sie Vorsitzende des „Bundes für Naturschutz und Landschaftspflege in Niedersachsen“ der Vorläuferorganisation des heutigen BUND. 1986 schließlich wird Lenelotte von Bothmer in den Bundesvorstand des „Verbandes deutscher Schriftsteller“ (jaja) gewählt.

Ein Jahr vor ihrem Tod am 19. Juni 1997 veröffentlicht Lenelotte von Bothmer ihre parlamentarischen Memoiren, die sie „Szenen aus den Dienstjahren einer Hinterbänklerin“ nennt und mit dem Titel „Mit der Kuh am Strick“ versieht. Das bezieht sich auf einen Dienstbesuch in Sambia. Die dortige bundesdeutsche Botschaft war auf die bahnbrechende Idee gekommen, dem sambischen Landwirtschaftsminister eine schwarz-bunte Kuh zu schenken und Lenelotte von Bothmer als Überbringerin zu nutzen. Sie erledigt ihre schwierige Aufgabe formal und souverän mit den Worten: „Your Excellency, I have the honour to present this cow to you.“ Für eine Hinterbänklerin ein durchaus gewichtiger Satz zu einen wichtigen außenpolitischen Anlass.

36. Osterfeuer der SPD Südstadt-Bult