Die da Ende Dezember 1865 in Leipzig zusammen kamen hatten mit Weihnachten wohl wenig am Hut. Ihnen brannten die Nöte der hart arbeitenden Menschen unter den Nägeln: Heimarbeit, Vielstundentag und schlechte Bezahlung für ein Gewerbe, das vor allem gut Situierten Wohlgenüsse verschaffte.

Die Zigarrenmacher, vor 150 Jahren noch überwiegend Männer, hatten die Nase voll von Ausbeutung und Erniedrigung, und gründeten in Leipzig die erste deutsche Gewerkschaft, den „Allgemeinen Deutschen Cigarrenarbeiter-Verein“. Das war eine große Tat, denn mit der Gründung dieser Gewerkschaft ging auch die Begründung der „Arbeiterbildung“ in deutschen Landen einher: Der Vorleser. Agitation war seinerzeit zwar verboten, aber die schlauen Zigarrenarbeiter kopierten einfach ein Modell aus Cuba, dem Mutterland der guten Zigarren, und Lasen Marx und Engels, Bebel und Lassalle und die damaligen Klassiker der Weltliteratur. Das war nicht nur revolutionär, das beförderte auch revolutionäre Gedanken gemäß der von Wilhelm Liebknecht vorgetragenen Parole „Wissen ist Macht“.

Einer der Mitgründer dieser Gewerkschaft war der Hannoveraner Heinrich Meister, der von 1867 - 1873 deren zweiter Vorsitzender war. Meister engagierte sich alsbald in der Sozialdemokratischen Partei und zog für sie 1884 in den Reichstag ein. Bis zu seinem Tod im Jahr 1906 konnte Meister seinen Wahlkreis behaupten. Er gehört damit neben August Bebel und Wilhelm Liebknecht zu den Gründervätern des freiheitlichen Deutschland.

Vorleser werden bis heute geschätzt und literarisch feilgeboten. Die beste Beschreibung dieser gewerkschaftlichen Bildungsinstitution stammt vom Mitgründer der „Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft“, dem Braunschweiger Erziehungswissenschaftler Heinrich Rodenstein.

Vorleser in den Arbeitsstuben der Zigarrenmacher
In der Zigarrenindustrie blühte um 1865 die Heimarbeit. In Dachstuben, Kellerräumen und halb verfallenen Buden saßen kleine Gruppen von „Hausarbeitern" zusammen. Vom frühen Morgen bis in die Nacht mussten sie schaffen, um nur das Allernötigste zu verdienen. Aber eines hatten sie den Fabrikarbeitern voraus: Kein „Aufpasser" schaute ihnen über die Schulter. Diese Freiheit nutzten sie. Ein Kollege wurde beauftragt, politische und wirtschaftliche Schriften vorzulesen. Seine Arbeit teilten sich die anderen.

So erwarben die Zigarrenmacher Wissen und Bildung. Gewerkschaftliche Ideen fielen bei ihnen auf fruchtbaren Boden. Und die Begabtesten unter ihren „Vorlesern" trugen später als führende Gewerkschafter oder Reichstagsabgeordnete entscheidend dazu bei, dass sich das Schicksal der arbeitenden Menschen besserte.

In den Jahren 1908 bis 1911, als ich eine Untere Bürgerschule in Braunschweig besuchte, musste ich jedes Mal, wenn es im Herbst oder zu Ostern Zeugnisse gegeben hatte, im Sonntagsanzug mit den Zensuren zu meinem Großvater, Heinrich Rodenstein, kommen und erhielt von ihm immer eine blanke Mark zur Belohnung.

Auch später noch ging ich oft zu diesem Großvater, um 25 Zigarren für meinen Vater einzukaufen. Mein Großvater war nämlich Zigarrenmacher. 25 Zigarren kosteten 1 Mark. Da es für seinen Sohn war, gab es zwei mehr.

Außerdem weiß ich noch, dass ich häufig mit einem Bestellschein für Rohtabak zu einer Tabak-Großhandlung auf dem Bankplatz in Braunschweig geschickt wurde, um das Sumatra-Deckblatt oder die Havanna-Einlage zu holen.

Dieser Großvater erzählte gern aus seinem bewegten Leben. Er hatte z.B. am Krieg 70/71 teilgenommen und muss schon in frühen Jahren ein leidenschaftlicher Gewerkschaftler gewesen sein. So hat er mir einmal berichtet, dass sie zu achten um einen Tisch herum saßen und Zigarren im Akkord rollten. Er habe aber oft keine Zigarren gerollt, sondern sei von seinen Kollegen zum Vorleser bestimmt worden. Von morgens bis abends las er seinen Kollegen vor. Ich bin gewiss, dass es sich dabei überwiegend um gewerkschaftliche und politische Literatur gehandelt hat. Auf diesem Weg haben die Marx und Lassalle, die Bebel, Liebknecht und viele andere das Ohr der Arbeitenden erreicht. Am Ende der Woche wurde der Lohn geteilt. Die sieben anderen gaben jeder 1/8 ihres Verdienstes für den Vorleser ab, so dass jeder mit 7/8 des Wochenlohnes nach Hause ging. Eine leise Frage: Wer von uns gibt laufend 1/8 seines Einkommens für Bildung aus?

Prozessor H. Rodenstein - 1. Vorsitzender der GEW – (1961)

Soviel Geschichte bedarf eigentlich nur eines Kommentars: Eine dicke Zigarre anzünden und sich der Arbeit von Menschen wie Heinrich Meister und Heinrich Rodenstein erinnern. Ohne sie wäre es um die Arbeiterbildung vermutlich nicht so gut bestellt. Und ohne sie hätten viele Menschen viel früher vor Verfolgung und Terror die Segel gestrichen. Auch wenn dies mitunter nicht mehr zeitgemäß erscheint: Der blaue Dunst hat Geschichte geschrieben. Möge er weiterhin angenehme Düfte verbreiten.

Der Vorleser. Emblem der Gewerkschaft „Nahrung Gaststätten Genuss (NGG)“
Foto: Liebt den blauen Dunst: Bezirksbürgermeister Lothar Pollähne

36. Osterfeuer der SPD Südstadt-Bult