Liebe Freundinnen, liebe Freunde,

vor 70 Jahren, im Frühjahr 1948, brachte Orli Wald ein Gedicht zu Papier, dass sie elf Jahre zuvor im Frauenzuchthaus im hessischen Ziegenhain verfasst hatte. Ich möchte es euch vortragen.

Draußen scheint die Sonne warm,
hier bei uns ist alles trübe.
Ach, wie ist das Leben arm
ohne Freiheit, ohne Liebe.

Vor dem Tore eicht die Freude,
hier bei uns ist alles grau.
Läg' ich doch in grüner Heide,
säh’ ich doch den Himmel blau.

Wär’ mein Herz doch kalt und tot,
dann könnt’ ich es leichter ertragen.
Doch mein Blut ist jung und rot.
Jedem möchte mein Leid ich klagen.

Das Gedicht spiegelt den Seelenzustand einer jungen Frau, die weiß, dass Nazi-Deutschland ihr das Leben nehmen will, und ist geprägt von Sehnsucht, Sentimentalität und Hoffnungslosigkeit. Wahrscheinlich hat Orli das Gedicht immer mal wieder für sich aufgesagt, um den Terror zu ertragen, den sie bis zur Befreiung erleiden musste. Dass sie das Gedicht im Frühjahr 1948 aufschreibt, hängt auch mit ihrer persönlichen Lebenssituation zusammen.

Anfang März 1948 war Orli, nach einer schweren Thorax-Operation, aus dem Sanatorium in Sülzhayn am Harz zu ihrem Ehemann Edu nach Hannover entlassen worden zur , wie es hieß, „Fortführung eines kurgemäßen Lebens“. Das sollte sie in Zeiten allgemeiner Not von 30 Reichsmark Wohlfahrtsunterstützung, also mit nichts bewältigen. Auch mit der Hilfe und Zuwendung ihres Mannes Edu gelingt das nur unzureichend. Zu schwerwiegend sind die Folgen ihrer Haftjahre in Zuchthäusern und Konzentrationslagern. Edu Wald schildert Orlis Gemütszustand mit den Worten: „Nachts standen die Toten von Auschwitz wieder auf“.

Dies ist eine präzise Beschreibung für Orlis Versuch zu überleben nach dem Überleben. Wir wissen alle, dass sie es nicht geschafft hat. Auch deshalb sind wir heute hier versammelt. Eines machte Orli in jenen ersten Jahren nach der Zerschlagung des Nazi-Faschismus am meisten zu schaffen: Mit ansehen zu müssen, dass viele Täter schon wieder in Amt und Würden kamen und Lohn und Brot oder auch Renten genossen, während sie zum Teil jahrelang um jeden Pfennig an Behandlungskosten und Entschädigung kämpfen musste. Auch von daher ist es konsequent, dass sich Orli an das Gedicht aus der Ziegenhainer Gefangenschaft erinnert. Erschwerend kam hinzu, dass Orli Wald mit ihren Genossinnen und Genossen in der Sowjetzone und alsbald auch der DDR haderte. Die Stalinisierung des öffentlichen Lebens und das Kaltstellen alter Antifaschisten waren ihr zuwider. Sie selbst hat diese zermürbenden Jahre mit den Worten zusammengefasst: „Ich muss immer darüber nachdenken, dass man keinen Glauben mehr hat“. Auch dies spiegelt Orlis Sehnsucht und Hoffnungslosigkeit.

Liebe Freundinnen. liebe Freunde,
am heutigen Weltfrauentag erinnern wir am Beispiel Orli Walds an die Kämpfe, aber auch das Leiden vieler mutiger Frauen in den vergangenen 100 Jahren und verneigen uns vor deren Lebensleistungen. Wäre Orli haute noch am Leben, dann wäre sie sicherlich hoch erfreut über Euren Einsatz, der auch der meine ist. Eines allerdings, und da komme ich auf ein anstehendes Ereignis zu sprechen, würde sie schier zur Verzweiflung treiben. In acht Tagen, am 16. März marschieren — wie schon seit etlichen Jahren — lettische Neofaschisten durch die Hauptstadt Riga, um die lettischen SS-Verbände zu ehren, also jene Menschen, die Handelnde im Holocaust waren. Was sie dabei besonders abstoßend fände, ist die Tatsache, dass diese Verbrecher von der Bundesrepublik Deutschland mit Renten versorgt wurden oder — so sie denn noch leben — versorgt werden. Dagegen würde sie öffentlich aufschreien, wissend, dass viele hannoversche Juden nach Riga in den Tod geschickt wurden. Daran erinnern wir jedes Jahr im Dezember. Ich finde, es ist an der Zeit, dass die Stadt Hannover sich in einem öffentlichen Protest an die Stadt Riga wendet und das Verbot jenes braunen Marsches fordert. Auch damit würde sie den Ermordeten die Ehre erweisen, die ihnen zukommt, so, wie wir heute Orli Wald die Ehre erweisen.

36. Osterfeuer der SPD Südstadt-Bult