Dieser Händedruck ist in die Geschichte eingegangen. Am 21. März 1933 schüttelt der bewusst förmlich gekleidete Adolf Hitler dem Reichspräsidenten Paul von Hindenburg mit tiefer Verbeugung die Hand. Das gewollt devote Gehabe lässt Joseph Goebbels weltweit verbreiten, um zu zeigen, dass das Deutsche Reich die Form wahrt und somit intakt ist. Der österreichische Emporkömmling Hitler weiß, dass er seine neue Macht dem adligen Steigbügelhalter aus Hannover zu verdanken hat.

Am 21. März 1933 tagt der Reichstag zur Eröffnung seiner achten Wahlperiode verfassungswidrig in der Garnisionskirche in Potsdam. Ein nationalistisch-symbolischer Akt, denn dort befindet sich die letzte Ruhestätte Friedrichs des Großen. Der vorübergehend profanierte Bau ist bereits mit den Insignien der neuen Macht ausstaffiert: Mit der alten „schwarz-weiß-roten“ Reichsflagge und der Hakenkreuzfahne der Nazis. Dies ist eindeutig verfassungswidrig, denn in Artikel 3 der Weimarer Reichsverfassung sind die Farben „schwarz-rot-gold“ als Nationalfarben festgeschrieben. Reichspräsident Hindenburg schert das nicht. Er hat den Verfassungsbruch vorbereitet und bereits am 10. März 1933 die Hakenkreuzfahne zum nationalen Emblem erklärt. Die Nazis sagen in Potsdam Danke und lassen Reichstagspräsident Hermann Göring lobhudeln:

„Sie sehen heute im Reichstag neue Embleme. Wir haben in diesem neuen Deutschland die alte, ruhmreiche Schwarz-Weiß-Rot vermählt mit jenem Siegeszeichen, das 14 Jahre uns in Not und Kampf vorangeflattert hat. Die alte Fahne behaltend, aber mitten hinein setzen wir das uralte Zeichen unserer Vorväter, das Sonnenzeichen, als Zeichen der Reinheit, als Zeichen der Ehre; so sind die beiden jetzt vermählt und ich bin glücklich, als Präsident diesen Reichstag unter diesen siegreichen Zeichen eröffnen zu dürfen, die somit über Deutschland wehen sollen.“

Die SPD-Reichstagsfraktion bleibt dieser Inszenierung fern. Der junge bayrische Abgeordnete Josef Felder notiert dazu in seinen Erinnerungen:

„Die neuen Herren klassifizieren den widerlichen Staatsakt zum “Tag der nationalen Erhebung“. Wie zum Hohn war der SPD-Fraktion auch die Einladung zugegangen. Sie flog ohne Debatte in den Papierkorb.“

Am 21. März 1933 berichtet das Nazi-Parteiorgan „Völkischer Beobachter“ dass in Dachau bei München ein Konzentrationslager eingerichtet worden sei und führt aus:

Hier werden die gesamten kommunistischen und soweit dies notwenig ist, Reichsbanner- und sozialdemokratischen Funktionäre, die die Sicherheit des Staates gefährden, zusammengezogen, da es auf Dauer nicht möglich ist und den Staatsapparat zu sehr belastet, diese Funktionäre in den Gefängnissen unterzubringen. Es hat sich gezeigt, dass es nicht angängig ist, diese Leute in Freiheit zu lassen, da sie weiter hetzen und Unruhe stiften. Im Interesse der Sicherheit des Staates müssen wir diese Maßnahmen treffen ohne Rücksicht auf kleinliche Bedenken.“

Anna Zammert | Handbuch des Deutschen Reichstages von 1930

Am 21. März 1933 besteht die SPD-Reichstagsfraktion aus 120 gewählten Abgeordneten. Aus Hannover gehören die Gewerkschaftssekretärin Anna Zammert und der Redakteur des „Volkswillen“, Karl Raloff an. De fakto sind es aber nur 94 Abgeordnete, denn viele sind entweder in den Verließen der Nazis verschwunden, untergetaucht oder geflohen. Adolf Hitler, der die Eröffnungssitzung als „Vermählung zwischen alter Größe und neuer Kraft“ bezeichnet, kündigt das „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“ an, das er zwei Tage später mit seinen willfährigen Hilfskräften aus dem bürgerlich-liberalen Lager durchpeitschen will.

In der SPD-Fraktion entbrennt eine heftige Debatte darüber, ob die Abgeordneten wieder fernbleiben oder sich beteiligen sollten. Wortführer der „Abstinenzler“ ist der „Reichsbanner-Vorsitzende“ Max Höltermann, der erklärt:

„Genossen, gehen wir nicht mehr hinüber, nach dem, was wir jetzt alles gehört haben. Das ist eine Mausefalle, da komme wir nicht mehr lebend heraus und die anderen von uns im KZ werden auch zusammengeschlagen.“

Stundenlang dauern die Auseinandersetzungen im Fraktionsaal der SPD im Reichstagsgebäude, der nicht vom Reichstagsbrand am 27. Februar 1933 betroffen ist. Die schleswig-holsteinische Abgeordnete Luise Schröder entgegnet Höltermann wütend und erregt:

„Auch Du wirst hinübergehen und mit „Nein“ stimmen! Du empfiehlst uns eine Proklamation. Wo willst Du denn eine Proklamation bekanntgeben? Wir haben doch gar keine Zeitungen mehr! Wir haben doch überhaupt keine Möglichkeit mehr, uns der Öffentlichkeit verständlich zu machen! Wie willst Du das denn überhaupt machen? Du wirst hinübergehen und mit uns stimmen. Ich gehe hinüber und wenn sie mich in Stücke reißen. Man muss vor aller Welt den Nazis widersprechen und mit „Nein“ stimmen.“

Josef Felder schreibt in seinen Erinnerungen:

„Das war ein ungeheurer moralischer Auftrieb für uns. In diesem Augenblick schwand bei uns die Ängstlichkeit.“

Luise Schröders Worte zeigen Wirkung. Der größte Teil der Fraktion, darunter der junge Abgeordnete Kurt Schumacher und der Parteivorsitzende Otto Wels wehren sich gegen das Fernbleiben von der Sitzung. Die Fraktionsführung erklärt, dass alle Abgeordneten mit Ausnahme derjenigen, die wegen ihrer Zugehörigkeit zum Judentum und ihrer bisherigen exponierten Stellung dem besonderen Hass der Nazis ausgesetzt waren, verpflichtet seien, an der „Nein-Abstimmung“ teilzunehmen.

Karl Raloff | Archiv der Sozialen Demokratie | Friedrich-Ebert-Stiftung

Dass die SPD-Fraktion mit „nein“ stimmen und eine Erklärung abgeben würde, bleibt nicht unbekannt. den Nazis passt das nicht. Deren Innenminister Wilhelm Frick lässt durchblicken, dass er für nichts garantieren könne. Auf die SPD-Fraktion macht das keinen Eindruck, wie sich der junge hannoversche Abgeordnete Karl Raloff erinnert:

Wir waren fest entschlossen, unsere Absichten durchzuführen. Einige von uns jüngeren Abgeordneten unter Führung von Kurt Schumacher traten an Otto Wels heran und baten ihn, die Absage dieser gefährlichen Erklärung einem jüngeren Kollegen zu überlassen. Aber Otto Wels erklärte, das das selber machen wollte. „Ich durfte Euer Vorsitzender in guten Tagen sein, ich will auch in diesen bösen Tagen meine Pflicht tun“. Dabei blieb es.“

Während die SPD-Fraktion am Vormittag noch im Reichstagsgebäude tagt, versammeln sich Massen von Nazi-Anhänger*innen vor dem Gebäude und werden von braunen Agitatoren aufgestachelt mit den Worten:

„Wir wollen das Ermächtigungsgesetz. sonst gibt’s Zunder. Nieder mit den roten Schuften und Landesverrätern.“

Gegen Mittag macht sich die SPD-Fraktion geschlossen auf den Weg vom Reichstagsgebäude hinüber zur „Kroll-Oper“, wo der Reichstag zusammenkommt. Es ist ein beängstigender Weg, den Karl Raloff eindrücklich schildert:

„Die SA hatte vom Reichstag bis zur Kroll-Oper eine enge Gasse gebildet, durch die wir unter Beschimpfungen und Drohungen Spießruten laufen mussten. Auch in der Kroll-Oper mussten wir durch ein Spalier von SS-Leuten hindurch, das sich durch das Foyer und alle Treppen bis in den Sitzungssaal erstreckte. Selbst im Sitzungssaale, in den Gängen und hinter uns standen drohend bewaffnete SS-Leute. Die gesamte Nazi-Fraktion, 288 Männer, waren in brauner und schwarzer Uniform erschienen, mit Dolch und Revolver an der Koppel. Die Mandate der 81 gewählten Kommunisten waren kassiert. Für sie waren nicht einmal Stühle aufgestellt worden, so dass niemand ihr Fehlen bemerkte. Soweit es ihnen nicht geglückt war, ins Ausland zu entkommen, saßen sie in den Gefängnissen und den bereits schnell errichteten Konzentrationslagern. Ringsherum in dem umgebauten Theatersaal hingen schwarz-weiß-rote und Hakenkreuzfahnen. Es war eine unheimliche Atmosphäre.“

Otto Wels | Archiv der Sozialen Demokratie | Friedrich-Ebert-Stiftung

Begleitet von „Heil-Rufen“ und frenetischem Gebrüll hält Adolf Hitler sein „Programmrede“, mit der er die Weimarer Verfassung endgültig außer Kraft setzen will. Am Ende seiner Rede gibt es wieder „Heil-Rufe“ und die Nazis singen ihre Parteihymne, das „Horst-Wessel-Lied“. Danach herrscht für kurze Zeit gequälte Ruhe. Dann schreitet Otto Wels ans Rednerpult, um die von der Fraktion beschlossene Rede zu halten. Es wird die letzte freie Rede im Deutschen Reichstag sein.

„Nach der Verfolgung, die die Sozialdemokratische Partei in der letzten Zeit erfahren hat, wird billigerweise niemand von ihr verlangen oder erwarten können, dass sie für das hier eingebrachte Ermächtigungsgesetz stimmt.

Die Wahlen vom 5. März haben den Regierungsparteien die Mehrheit gebracht und damit die Möglichkeit gegeben, streng nach Wortlaut und Sinn der Verfassung zu regieren. Wo diese Möglichkeit besteht, besteht auch die Pflicht. Kritik ist heilsam und notwendig.

Noch niemals, seit es einen Deutschen Reichstag gibt, ist die Kontrolle der öffentlichen Angelegenheiten durch die gewählten Vertreter des Volkes in solchem Maße ausgeschaltet worden, wie es jetzt geschieht und wie es durch das neue Ermächtigungsgesetz noch mehr geschehen soll. Eine solche Allmacht der Regierung muss sich um so schwerer auswirken, als auch die Presse jeder Bewegungsfreiheit entbehrt.

Die Zustände, die heute in Deutschland herrschen, werden vielfach in krassen Farben geschildert. Wie immer in solchen Fällen fehlt es nicht an Übertreibungen. Was meine Partei betrifft, so erkläre ich hier:

Wir haben weder in Paris um Intervention gebeten noch Millionen nach Prag verschoben, noch übertreibende Nachrichten ins Ausland gebracht.

Solchen Übertreibungen entgegenzutreten wäre leichter, wenn im Inland eine Berichterstattung möglich wäre, die Wahres von Falschem unterscheidet.

Noch besser wäre es, wenn wir mit gutem Gewissen bezeugen könnten, dass die volle Rechtssicherheit für alle wiederhergestellt sei ...

Die Herren von der Nationalsozialistischen Partei nennen die von ihnen entfesselte Bewegung eine nationale Revolution, nicht eine nationalsozialistische. Das Verhältnis ihrer Revolution zum Sozialismus beschränkt sich bisher auf den Versuch, die sozialdemokratische Bewegung zu vernichten, die seit mehr als zwei Menschenaltern die Trägerin sozialistischen Gedankenguts gewesen ist und auch bleiben wird.

Wollten die Herren von der Nationalsozialistischen Partei sozialistische Taten verrichten, sie brauchten kein Ermächtigungsgesetz. Eine erdrückende Mehrheit wäre ihnen in diesem Hause gewiss ...

Aber dennoch wollten Sie vorerst den Reichstag ausschalten, um ihre Revolution fortzusetzen. Zerstörung von Bestehendem ist aber noch keine Revolution. Das Volk erwartet positive Leistungen. Es erwartet auch durchgreifende Maßnahmen gegen das furchtbare Wirtschaftselend, das nicht nur in Deutschland, sondern darüber hinaus in aller Welt herrscht.

Wir Sozialdemokraten haben in schwerster Zeit Mitverantwortung getragen und sind dafür mit Steinen beworfen worden. Unsere Leistungen für den Wiederaufbau von Staat und Wirtschaft, für die Befreiung der besetzten Gebiete werden vor der Geschichte bestehen. Wir haben gleiches Recht für alle und ein soziales Arbeitsrecht geschaffen. Wir haben geholfen, ein Deutschland zu schaffen, in dem nicht nur Fürsten und Baronen, sondern auch Männern aus der Arbeiterklasse der Weg zur Führung des Staates offensteht.

Davon können Sie nicht zurück, ohne ihren eigenen Führer preiszugeben. Vergeblich wird der Versuch bleiben, das Rad der Geschichte zurückzudrehen.

Wir Sozialdemokraten wissen, dass man machtpolitische Tatsachen durch bloße Rechtsverwahrungen nicht beseitigen kann. Wir sehen die machtpolitische Tatsache Ihrer augenblicklichen Herrschaft. Aber auch das Rechtsbewusstsein des Volkes ist eine politische Macht, und wir werden nicht aufhören, an dieses Rechtsbewusstsein zu appellieren.

Die Verfassung der Weimarer Republik ist keine sozialistische Verfassung. Aber wir stehen zu den Grundsätzen des Rechtsstaates und der Gleichberechtigung, des sozialen Rechtes. Wir deutschen Sozialdemokraten bekennen uns in dieser geschichtlichen Stunde feierlich zu den Grundsätzen der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit, der Freiheit und des Sozialismus.

Kein Ermächtigungsgesetz gibt Ihnen die Macht, Ideen, die ewig und unzerstörbar sind, zu vernichten. Sie selbst haben sich ja zum Sozialismus bekannt. Das Sozialistengesetz hat die Sozialdemokratie nicht vernichtet. Auch aus neuen Verfolgungen kann die deutsche Sozialdemokratie neue Kraft schöpfen.

Wir grüßen die Verfolgten und Bedrängten. Wir grüßen unsere Freunde im Reich. Ihre Standhaftigkeit und Treue verdienen Bewunderung.“

In die Geschichtsbücher geht vor allem dieser Satz von Otto Wels ein:

„Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht…“.

Adolf Hitler schreitet danach theatralisch erbost ans Pult, um Otto Wels und die Sozialdemokratie zu beschimpfen. Zeitzeugen erinnern sich, Hitler noch nie so spontan erlebt zu haben, denn er gilt als Meister der inszenierten Schmierenkomödie. Tatsächlich ist auch dieser Auftritt gut vorbereitet, denn einem alten parlamentarischen Brauch zufolge hat der Chefredakteur des „Vorwärts“, Friedrich Stampfer, den Redetext vorab an alle Fraktionen verteilen lassen und Hitler damit seinen „spontanen“ Auftritt überhaupt erst ermöglicht.

Sozialdemokratische Abgeordnete, die sich zu Wort melden, werden hinfort von Reichstagspräsident Göring „übersehen“. Nach wenigen, zustimmenden Kommentaren einiger bürgerlicher Abgeordneter, kommt es schließlich zur Abstimmung. 441 Abgeordnete stimmen für das „Ermächtigungsgesetz“, die 94 Sozialdemokrat*innen stimmen dagegen. Wieder verstummt der Saal unter dem Gebrüll des „Horst-Wessel-Lieds“. Die Nazis haben auf ganzer Linie gesiegt und ihre Diktatur etabliert. Das Parlament hat sich selbst entmündigt.

Am Rande der Sitzung warnt Hermann Göring seinen Vorgänger, den Sozialdemokraten Paul Löbe, die Sozis sollten nach der Sitzung „im Restaurant bleiben, bis sich alles verzogen habe“. Dieser unverhohlenen Einladung in die Mausefalle folgt die Fraktion nicht. In kleinen Gruppen verlassen die SPD-Abgeordneten versteckt zwischen bürgerlichen Kolleg*innen und ausländischen Korrespondent*innen die Kroll-Oper. Nach dem Abgesang auf die Republik beschreibt Karl Raloff in seinen Erinnerungen die Situation mit den Worten:

„Mir sind diese Stunden noch heute gegenwärtig wie vor 35 Jahren Am Potsdamer Platz gingen wir in das große Restaurant Pschorrbräu. Dort meldete ich ein Telefongespräch nach Hannover an, um meiner Frau, die ja die ganze Debatte im Rundfunk gehört hatte, sagen zu können: „Ich lebe noch, ich bin heil wieder aus der Höhle des Löwen herausgekommen.“

Von Lothar Pollähne


Fotos:

  • Otto Wels und Karl Raloff, Archiv der Sozialen Demokratie/Friedrich-Ebert-Stiftung
  • Anna Zammert, Handbuch des Deutschen Reichstages von 1930

Quellen:

  • Werner Blumenberg, Kämpfer für die Freiheit, Berlin und Hannover, 1959
  • Josef Felder, Warum ich Nein sagte, Hamburg, 2002
  • Karl Raloff, Ein bewegtes Leben, bearbeitet und kommentiert von Herbert und Sibylle Obenaus, Hannover 1995
36. Osterfeuer der SPD Südstadt-Bult