Die erste Straße, die in der Südstadt stadteinwärts von der Hildesheimerstraße abbiegt, ist die Hilde-Scheider-Allee. Sie ist am 5. Januar 2015 nach der in Hannover geborenen evangelischen Theologin Hilde Schneider benannt worden. Von 1897 bis 1960 war die Hilde-Schneider-Allee Teil der Bismarckstraße. Von 1960 bis 2015 war die Straße nach Karl Elkart benannt, der sich als Stdatbaurat große Verdienste um die Gestaltung der Stadt Hannover erworben hatte. Da sich Elkart, der seit 1933 Fördermitglied der SS und seit seiner Wiederwahl zum Stadtbaurat 1937 Mitglied der NSDAP war, maßgeblich an der Beraubung jüdischer Mitbürger und der Ausbeutung von Zwangsarbeitern beteiligt hatte, beschloss der Stadtbezirksrat Südstadt-Bult die Umbenennung der Elkartallee in Hilde-Schneider-Allee. An der Hilde-Schneider-Allee liegen ein Senioren- und Pflegeheim des Deutschen Roten Kreuzes, die Montessorischule und die Elsa-Brändström-Schule.

Hilde Schneider

Hilde Schneider, Foto: Henriettenstiftung
Hilde Schneider Foto: Henriettenstiftung

Geboren wird Hilde Schneider am 12. November 1916 in Hannover nicht unbedingt erwünscht als drittes Kind von Else und Paul Scheider. Die Eltern waren aus Breslau zugezogen, weil Paul Schneider sich in der preußischen Provinzhauptstadt Hannover bessere Chancen als Frauenarzt und Geburtshelfer versprach. Hilde Geburt findet allerdings ohne Hilfe des Vaters statt, der als Soldat an der Westfront dient. Die Familie wohnt in der damals als vornehm geltenden Königstraße 4, wo sich auch die Arztpraxis des Vaters befindet. Dort ist seit Ende 2014 ein Stolperstein für Hilde Schneider in den Bürgersteig eingelassen. Hilde Schneiders Kindheit ist überschattet von einer schweren Krankheit ihrer acht Jahre älteren Schwester Inge. Als diese 1925 stirbt, darf Hilde nicht an der Beerdigung auf dem Engesohder Friedhof teilnehmen, weil Paul Schneider befindet, sie sei zu jung. Das ist wohl einer der Gründe für Hildes getrübtes Verhältnis zum Vater.

Bei einem Verwandtenbesuch in Breslau erfährt Hilde von ihrer Mutter Else, dass diese einer angesehenen jüdischen Familie aus der schlesischen Großstadt entstammt. Großvater Oscar Freund soll Besitzer der liberalen „Breslauer Morgenpost“ gewesen sein. Jedenfalls befand sich die Zeitung seit Mitte des 19. Jahrhunderts im Besitz der Familie Freund. Der Liebe zu Paul Schneider wegen hatte sich Else Freund vor der Heirat taufen lassen. Beide Eltern gehören der Evangelischen Kirche an. Paul Schneider schließt sich als Kriegsveteran dem deutschnationalen Frontkämpferbund „Stahlhelm“ und wird in die Loge „Zum Schwarzen Bär“ aufgenommen.

Als Hildes Mutter Else 1930 stirbt, darf die mittlerweile 14jährige Hilde auf Geheiß des Vaters wieder nicht an der Beerdigung teilnehmen. Danach verbessert sich die Beziehung zum jetzt alleinstehenden Vater für zwei Jahre, bis dieser eine wesentlich jüngere Frau heiratet. Hilde Schneider besucht die Sophienschule und beginnt, sich für die Nationalsozialisten zu begeistern. Dem Nazi-Mädchenbund BDM darf sie als „Nichtarierin“ jedoch nicht beitreten.

1934 verlässt Hilde Schneider die Sophienschule, weil ihr klar geworden ist, dass sie keinen Schulabschluss wird erreichen können, vor allem aber, weil sie die häusliche Atmosphäre unerträglich findet. Den Wunsch Ärztin zu werden, kann sich Hilde Schneider damit nicht erfüllen. Stattdessen gelingt es ihr nach langen Auseinandersetzungen, den Vater davon zu überzeugen, die Zustimmung zur Krankenschwesternausbildung zu geben. Zunächst absolviert sie ein Praktikum in der Kinderheilanstalt in der Ellernstraße. Anfang 1935 wird Hilde Schneider als Vorprobeschwester in der Henriettenstiftung aufgenommen. Ein Jahr später wird sie als Novizin eingeführt. Dem Ziel, Diakonisse zu werden rückt Hilde Schneider damit, wie sie damals denkt, einen Schritt näher.

Trotz der Begeisterung für den Nationalsozialismus, der auch in der Henriettenstiftung vorherrscht, kann Hilde Schneider dort bis zur so genannten „Reichskristallnacht“ relativ unbehelligt leben und lernen. Dann endet das Geborgensein im christlichen Hause. Hilde Schneider muss die von der Mutter geerbten Wertsachen abgeben. Sie wird zur Gestapo vorgeladen, erhält den Zusatznamen Sara und unterliegt fortan der Überwachung. 1939 erfährt Hilde Schneider, dass auch der Vater ihres Vaters jüdischen Glaubens war. Damit wird sie von den Nazis als „Volljüdin“ geführt. Halbherzig versucht die Henriettenstiftung, Hilde Schneider zur Auswanderung zu überreden. Das widerspricht ihrer christlichen Grundeinstellung und sie lehnt dieses Ansinnen ab. Im Sommer 1939 beendet Hilde Schneider ihre Lernzeit bei der Henriettenstiftung mit der Rückgabe der Schwesterntracht. Rückblickend schreibt sie: „Man merkt das ja, wenn man eine Last ist. Sie haben es mir nicht direkt gezeigt, aber mein Austritt ging ja nicht von mir aus. Ich bin nicht gegangen, sondern ich bin gegangen worden.“

Das Krankenschwesternexamen legt Hilde Schneider im März 1941 im Jüdischen Krankenhaus in Hannover ab, wo sie zunächst auch Arbeit findet. Im Dezember desselben Jahres wird sie mit hunderten Jüdinnen und Juden aus Hannover nach Riga deportiert. Sie hatte das erwartet und lebte mit „gepacktem Tornister“. 50000 so genannte „Reichsjuden“ werden schließlich im Ghetto von Riga eingepfercht. 700 von ihnen überleben nach Zwangsarbeit, Folter und Verschleppung in die Vernichtungslager. Eine von ihnen ist Hilde Schneider. Der christliche Glaube, so berichtet sie später, hat ihr geholfen, die Jahre im Ghetto und in den Lagern zu überstehen. Ihr Geleitwort in dieser Zeit stammt aus dem ersten Buch Mose und lautet: „Ihr gedachtet’s böse mit mir zu machen; aber Gott gedachte es gut zu machen.“

Nach Befreiung und abenteuerlicher Flucht gelingt es Hilde Schneider, sich im Juni 1945 nach Hannover durchzuschlagen. Die Aufnahme ist „zurückhaltend“, auch im Diakonissenhaus der Henriettenstiftung. In der Gesellschaft des „Nachkriegs-Selbstmitleids“ ist für Überlebende wie Hilde Schneider kein Platz. Den muss sie sich suchen, und sie findet ihn in der Berufung zur Pfarrerin. Zunächst macht sie trotz aller gesundheitlichen Beeinträchtigungen nach der Lagerhaft ihr Abitur. Danach studiert sie in Göttingen Evangelische Theologie und wird nach dem Examen Vikarin in Hannover. Ihre Bemühung, in die Gefängnisseelsorge in Göttingen einzutreten, wird auf kirchlichen Wegen abschlägig beschieden. Nach dem zweiten theologischen Examen wird Hilde Schneider als Stadtvikarin nach Bremerhaven versetzt. Pfarrerin kann sie dort nicht werden, denn Frauen werden zu jener Zeit nicht ordiniert getreu dem Motto: „Das Weib schweige in der Gemeinde“.

Hilde Schneider fühlt sich beengt und sieht sich immer wieder antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt. Anfang 1959 bewirbt sie sich bei der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau um Anstellung und wird mit Wirkung vom 1. November „auf Lebenszeit zur Pfarrerin“ berufen. Ihr Aufgabengebiet umfasst die Seelsorge im Frauengefängnis Frankfurt-Preungesheim und die Erteilung von Religionsunterricht an Berufsschulen. Diese eher ungeliebte Aufgabe muss sie jedoch nur wenige Monate lang ausüben. Am 3. Mai 1960 schließlich wird Hilde Schneider in der Alten St. Nikolaikriche in Frankfurt ordiniert. Sie ist „angekommen“, wie es ihr Biograf Hartmut Schmidt ausgedrückt hat. Bis zum 1. Mai 1973 arbeitet Hilde Schneider in der Haftanstalt. Dann wird sie aus gesundheitlichen Gründen in den vorzeitigen Ruhestand entlassen.

Hilde Schneider ist im Januar 2008 gestorben und auf eigenen Wunsch hin auf dem Salemsfriedhof der Henriettenstiftung in Hannover-Kirchrode begraben.

Hilde Schneider Foto: Henriettenstiftung


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36. Osterfeuer der SPD Südstadt-Bult