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Die Revolution hat gesiegt und ihre missratenen Kinder entlassen in die Weiten Russlands. Dort machen sich marodierende Horden unterschiedlicher Farbgebung breit: Rote, Weiße, Grüne, Kommunisten, Sozialrevolutionäre, Monarchisten, Anarchisten, Abenteurer. Wer morgens sowjetgeleitet aufwacht, wird tagsüber von zaristischen Glaubensgenossen heimgesucht und abends anarchistisch vergewaltigt. Die Monate nach der Oktoberrevolution sehen die noch nicht gefestigte Sowjetunion als riesiges Schlachtfeld, in dem Überzeugungen zweitrangig sind. Es geht einzig um die Vorteile der jeweils beteiligten Akteure. Von Romantik keine Spur.

In Russland regieren „Blut und Feuer“. So heißt der fulminante Revolutionsroman von Artjom Wesjoly, der jetzt in der wohl endgültigen Fassung auf Deutsch vorliegt. Zensierte Bruchstücke hat es in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder gegeben, „gereinigt“ von den Verwaltern der reinen Lehre, denen die „korrekte Linie“ der jeweils aktuellen Fassung als Richtschnur für ihr Handeln dient, wobei „Richt“schnur wörtlich zu nehmen ist. Abweichler werden gnadenlos verfolgt, vor Geheimgerichte gestellt, in Schnellverfahren abgeurteilt und hingerichtet. So auch der alte Bolschewik Artjom Wesjoly, der am 8. April 1938 als vermeintlicher Terrorist erschossen wird.

„Blut und Feuer“ ist atemlos. Es hetzt durch die anarchische Phase eines Landes, das zwischen Zerfall und „eiserner Hand“ hin und her taumelt. Der 1. Weltkrieg, den die Sowjetführung mit dem Friedensschluss von Brest-Litowsk am 3. März 1918 für sich und nach außen hin beendet zu haben glaubt, tobt im Inneren des Landes unvermindert weiter. Wer eine Waffe hat und ein Epaulet auf der Schulter, sucht sich eine Miliz zusammen und zieht — Angst und Schrecken verbreitend — von Ort zu Ort. Freundschaften und selbst verwandtschaftliche Beziehungen gelten nicht mehr.

Terror und Verrat, Raub und Vergewaltigung, Mord und Totschlag sind der rote Faden dieses Romans, der zwar in dem Rotarmisten Maxim Kushel eine Hauptfigur hat, der liebt und hasst und leidet, aber die eigentliche Hauptfigur ist das Chaos. Das beschreibt Artjom Wesjoly mit brachialer Sprachgewalt, die mal zärtlich, mal zotig, aber grundsätzlich offen und ehrlich daherkommt. Leserinnen und Leser werden von Wesjolys Wortgewitter förmlich in die nachrevolutionären Ereignisse hineingezogen und sind entweder ergriffen oder angeekelt, auf jeden Fall aber fasziniert.

Der in der DDR sozialisierte Schriftsteller Ingo Schulze — ein ausgewiesener Russlandkenner — bezeichnet „Blut und Feuer“ als „literarischen Urknall“. Wesjoly, so Schulze, „vermag Menschenmassen so zu beschreiben, dass man glaubt, jeden Einzelnen heraushören zu können.“

Dass dies auch in der deutschen Fassung bestechend gelingt, ist das Verdienst Thomas Reschkes, dem es gelingt, die Diktion Artjom Wesjolys so ins Deutsche zu übertragen, dass der nachrevolutionäre Funke überspringt. Eine Meisterleistung literarischen Schaffens.

Nur ein Buch aus jener wirren nachrevolutionären Zeit vermag es an Brutalität und Sprachgewalt mit „Blut und Feuer“ aufzunehmen: Isaak Babels Geschichtensammlung „Die Reiterarmee“ aus dem Jahr 1926. Dass der große Dichter der Revolution, Wladimir Majakowski, Wesjoly und Babel auf eine Stufe stellt, verwundert daher nicht. Babel und Majakowski hätten den Schlusssatz aus „Blut und Feuer“ gewiss abgenickt: „Heimatland … Rauch, Feuer — kein Ende!“

Lothar Pollähne


Artjom Wesjoly, „Blut und Feuer“, Aufbau Verlag Berlin, 2017, 640 S., 28,80€