Egon Franke stützt Kurt Schumacher auf einer SPD-Kundgebung

Von Lothar Pollähne

Am 1. Juli 1964 wird Heinrich Lübke in der Bundesversammlung bereits im ersten Wahlgang in seinem Amt als Bundespräsident bestätigt. Das ist vordergründig erstaunlich, denn Lübke gilt vielen Menschen als Witzfigur. Dass er dennoch gewählt wird, hat er vor allem einem Bundestagsabgeordneten zu verdanken, den außerhalb seines Wahlkreises in Hannover kaum jemand kennt: Egon Franke.

Dieser „Grauen Eminenz“ der deutschen Nachkriegs-Sozialdemokratie hat sich Katrin Grajetzki mit einer Biografie zugewandt, die einen wichtigen Personenkreis der SPD erhellt, den sogenannten „Kanalarbeiter“, einen Zusammenschluss konservativer, gewerkschaftlich orientierter Sozialdemkrat*innen. Lübke hatte vor seiner Wiederwahl signalisiert, dass er sich für eine „Große Koalition“ stark machen würde, und Egon Franke war der ewigen Opposition überdrüssig und nahm Lübkes Vorlage dankend auf. Franke konnte dabei auf seine „Kanalarbeiter“ zählen, die sich unter seiner Leitung seit Mitte der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts zum Machtfaktor innerhalb der SPD-Bundestagsfraktion entwickelt hatten.

„Er war ein mächtiger Mann“ . Mit diesen Worten beginnt Katrin Grajetzki ihre Arbeit über den nahezu vergessenen „Kanalarbeiter und Bundesminister“, ohne den der Aufstieg der SPD zur Regierungspartei kaum denkbar gewesen wäre. Dieser Einfluss ist in seiner Biographie zunächst nicht angelegt. 1913 in Hannover geboren, tritt Egon Franke als Tischlerlehrling in die Sozialistische Arbeiterjugend (SAJ) ein, wird 1928 Mitglied der SPD und alsbald Vorsitzender der SAJ.

Auf die Machtübertragung an die Nazis ist er vorbereitet. Franke schließt sich 1933 der „Sozialistischen Front“ an, der reichsweit größten sozialdemokratischen Widerstandsorganisation gegen die Nazis. Er verteilt Flugschriften und verrichtet Kurierdienste. 1935 wird Franke wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ zu zweieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt, danach überlebt er im Abseits, bis ihn die Nazis in das „Strafbataillon 999“ schicken, mit dem er in der Ägäis seinen Beitrag zum „Endsieg“ leisten soll.

Nach Verwundung und kurzer Kriegsgefangenschaft kehrt Egon Franke bereits im April 1945 nach Hannover zurück und findet seinen Weg ins „Büro Dr. Schumacher“, wo er schnell zum „Aufbaukommissar“ ernannt wird. Franke macht sich „unentbehrlich“ und steigt auf, wird Parteisekretär, Ratsherr und Landtagsabgeordneter. Dabei versteht er sich als ergebener „Parteikader“ und stellt an sich und die Parteiarbeit hohe Ansprüche:

„Um dabei als Sozialisten erfolgreich bestehen zu können, ist es notwendig, dass jeder einzelne sich in das Gesamte einfügt und seine persönliche Meinung im Kreis der Gleichgesinnten so lange zum Ausdruck bringt, bis eine Entscheidung gefallen ist. Ist die Entscheidung gefallen, dann gilt sie für jeden, auch für den, der zunächst anderer Meinung war.“

Katrin Grajetzki beschreibt in ihrer Biografie nachdrücklich, dass Egon Franke auch wegen vieler privater Schicksalsschläge mit der Partei verheiratet ist. Das Private bleibt weitgehend privat. Der Mensch Egon Franke ist Parteimensch durch und durch. Das bestimmt auch seine Laufbahn als Abgeordneter des Bundestages. 1951 wird er in einer Nachwahl mit 52,9 % direkt gewählt und gehört dem Bundestag bis 1987 an.

Dort kommt ihm eine Eigenschaft besonders zugute: seine eiserne Partei- und Fraktionsdisziplin, die gleichermaßen von Herbert Wehner, Helmut Schmidt und Willy Brandt geschätzt wird. Brandt sorgt dafür, dass Egon Franke 1964 ins Parteipräsidium und 1966 zum stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden gewählt wird. Auf dessen Kanalarbeiter, Frankes zweite Familie, kann sich der Kanzler dabei stets verlassen.

Zwei heftige Niederlagen muss Egon Franke in jenen Jahren ausgerechnet im heimatlichen Niedersachsen verkraften. Sein Versuch, 1967 niedersächsischer Innenminister zu werden, wird von der Mehrheit der SPD-Landtagsfraktion verhindert, und 1970 endet Frankes 20jährige Amtszeit als Vorsitzender des Landesausschusses. Die Partei hat sich gewandelt und „die Welt von gestern“ (Wolfgang Jüttner) abgewählt. Katrin Grajetzki beleuchtet diese Periode eher beiläufig und konzentriert sich auf Frankes weitere Karriere in Bonn als Machtpolitiker der zweiten Reihe. Damit schreibt sie eine Subgeschichte der „Großen Koalition“.

Am 22. Oktober 1969 wird Franke, den Willy Brandt schätzt und braucht, als Nachfolger von Herbert Wehner zum „Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen“ ernannt. Franke ist dabei bewusst, dass die deutsch-deutsche Politik im Kanzleramt vom Chef und von Egon Bahr voran gebracht wird. Wieder agiert Franke aus der zweiten Reihe heraus und organisiert in großem Stil die Freikäufe politischer Gefangener aus der DDR. Für viele Menschen, hüben wie drüben, gilt das „Franke-Ministerium“ als „letzte Hoffnung“. Bis zum Ende seiner Amtszeit, die mit dem Bruch der sozial-liberalen Koalition endet, bleibt Egon Franke seinem Prinzip der Machtpolitik aus der zweiten Reihe treu.

„Dass Franke kein Intellektueller oder Theoretiker war, der Programmdiskussionen anstieß, schmälert mitnichten seine Bedeutung für die Sozialdemokratie“, schreibt Katrin Grajetzki in ihrem Schlusswort und fügt erstaunt anerkennend hinzu: „Der gebürtige Niedersachse, der alljährlich auf dem Hannoveraner Schützenfest zur Höchstform auflief, Lüttje-Lage als Kaskade trinken konnte, ein Herz für Schützen- und Kleingärtnervereine hatte, war der Inbegriff der Volkstümlichkeit.“



Katrin Grajetzki, „Kanalarbeiter und Minister“. Der Sozialdemokrat Egon Franke (1913 - 1995), Verlag J.H.W. Dietz, Bonn, 2019, 256 S., € 32,00

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