Von Lothar Pollähne

Im Herbst 1939 flieht der sozialdemokratische Journalist Immanuel Birnbaum mit seiner Frau Lucia und zwei Söhnen aus Polen über Lettland und Finnland nach Schweden. Von Stockholm aus schreibt er mit dem Kürzel Dr. B. für die „Basler Nachrichten“. Den Familienunterhalt verdient er als Lektor für den Exil-Verlag von Gottfried Bermann Fischer, der neben Anderen auch Thomas Mann und Stefan Zweig verlegt. Stockholm gilt in jenen Jahren als das „Casablanca des Nordens“. Intellektuelle, Exil-Politiker*innen und Geheimagent*innen aller Länder geben sich in den Bars und Hinterzimmern der schwedischen Hauptstadt die Klinken in die Hand.

Schweden ist zwar per Staatsdoktrin „neutral“, aber Nazi-Deutschland gegenüber durchaus nicht unfreundlich, schließlich ist das Deutsche Nazi-Reich der wichtigste Kunde für schwedisches Eisenerz. Der britische Marineminister Winston Churchill möchte die Eisenerzexporte mit allen Mitteln verhindern und schickt zu diesem Zweck Geheimagent*innen, getarnt als anti-nazistische Propagandist*innen, nach Stockholm. Sie sollen einen Anschlag auf den Exporthafen Oxelösund verüben.

In diese Kreise gerät Immanuel Birnbaum. Er hört Vieles und manchmal auch zu viel. In einem Artikel an einen Berliner Pressedienst, für den er nebenbei immer noch arbeitet, schreibt er mit Geheimtinte, dass der britische „Secret Service“ einen Agenten namens Rickman habe. Der Brief wird abgefangen und Immanuel Birnbaum wandert als vermeintlicher deutscher Spion ins Gefängnis. Nach seiner Entlassung wird er gut zwei Jahre lang interniert. Soweit die nüchterne Darstellung der Stockholmer Jahre von Immanuel Birnbaum, die für sich allein genommen schon Stoff für einen Spionage-Thriller abgibt.

Immanuel Birnbaums Enkel Daniel hat die Fakten in einem Karton mit der Aufschrift „Imms hinterlassene Papiere“ gefunden, der viele Jahre lang im Hause seiner Eltern aufbewahrt wurde. 2015 war Daniel Birnbaums Neugier so groß, dass er begann, die Papiere seines Großvaters „Imm“ zu sichten. Nach eigenen Angaben „verlor“ er sich „in Briefen und Artikeln, Urteilen und Verhörprotokollen“. Zutage kam ein schier unglaubliches Intrigen-Geflecht mit „Starbesetzung“.

Daniel Birnbaum hat der Versuchung widerstanden, eine Biografie seines Großvaters zu schreiben, denn die lag als Autobiografie bereits vor. Stattdessen hat der Enkel einen Thriller geschrieben, in dem er versucht, das Stockholm der Jahre 1939 und 1940 lebendig werden zu lassen. Das Ergebnis ist eine Melange aus Hoffnung, Verrat, Anpassung und Verzweiflung, all dies verbunden mit der in Schweden manifesten Judenfeindlichkeit und der durchaus realen Furcht, die Deutschen könnten in Schweden einmarschieren.

Politische und jüdische Flüchtlinge versuchen verzweifelt, von Schweden aus in die U.S.A. ausreisen zu können, so auch Gottfried Bermann Fischer. Da Vielen die Flucht per Schiff zu riskant erscheint, gewinnt die Fluchtroute über Moskau und Wladiwostok faszinierend an Bedeutung. Bert Brecht wählt mit seinem Anhang diese Route und auch Gottfried Bermann Fischer möchte sich mit seiner Familie auf diesen langen Weg begeben. Dazu allerdings braucht er sowjetische Visa — und er braucht Immanuel Birnbaum, um die begehrten Papiere zu beschaffen. Dabei soll die sowjetische Revolutionärin Alexandra Kollontai helfen, die in Stockholm als Diplomatin residiert. Kollontai ist, wie viele andere Figuren in Daniel Birnbaums Thriller, real existierend und fantasievoll in Szene gesetzt.

Geradezu köstlich ist Daniel Birnbaums Darstellung der dilettantischen britischen Bemühungen, die schwedischen Erzexporte ins Nazi-Reich mit Sprengstoffattentaten zu unterbinden. Die Trottel vom „Secret Service“ benehmen sich wie in einer Klamotte der „Olsen-Bande“ und verbocken alles. Als sie auffliegen, fliegt auch Immanuel Birnbaum auf — und in der Folge seiner Inhaftierung wird Gottfried Bermann Fischer für ein paar Wochen interniert, bevor er ausgewiesen wird und mit seiner Familie in die U.S.A. ausreisen darf.

Immanuel Birnbaum arbeitet nach dem Ende des von den Deutschen angezettelten Kriegs wieder als Journalist, zunächst, bis er 1948 ausgewiesen wird, in Warschau, dann in Wien und schließlich als außenpolitischer Redakteur bei der Süddeutschen Zeitung. Sein Renommee ist so groß, dass der österreichische Bundeskanzler Bruno Kreisky, den Birnbaum vielleicht schon aus dem Exil in Stockholm kannte, ein denkwürdiges Diktum abgibt: „Was der Birnbaum nicht weiß, braucht man nicht zu wissen!“

Zu wissen allerdings lohnt sich, dass Daniel Birnbaum ein faszinierender und spannender zeithistorischer Roman gelungen ist, der mehr noch als die nüchterne Darstellung der Fakten nach einem Drehbuch und einem Kino-Thriller verlangt.


Daniel Birnbaum, Dr. B., Roman, Übertragung aus dem Schwedischen von Ursel Allenstein und Hedwig M. Binder, München 2021, 312 S., € 24,00

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