Im nördlichen Teil der Südstadt liegt — eingebettet zwischen Sallstraße, Kleiner Düwelstraße und Dieckmannstraße — der Elisabeth-Müller-Platz. Benannt ist er seit Mai 2022 nach der hannoverschen Kinderärztin Elisabeth Müller. Im Volksmund hieß der Platz jahrzehntelang „Schmuckplatz“, obwohl dort außer dem „Struckmeier-Brunnen“ wenig Schmückendes zu finden war.

Dr. Elisabeth Müller

Stolperstein Elisabeth Müller
Stolperstein Elisabeth Müller

Als zweites von vier Kindern wird Elisabeth Rosa Müller am 22. Juni 1895 in der elterlichen Wohnung in der Rumannstraße 25 geboren. Ihr Vater Siegfried stammt aus einer ehemals wohlhabenden, jüdischen Baumwollfabrikanten-Familie aus Adelebsen im heutigen Landkreis Göttingen. Siegfrieds Eltern Gottschalk und Rosette müssen sich Mitte des 19. Jahrhunderts assimiliert haben, die ersten drei Kinder trugen noch traditionelle Namen. 1875 zieht Siegfried Müller nach Hannover, wo er 1881 in das Bankhaus der Brüder Dammann eintritt. 1891 macht sich Siegfried Müller mit einem eigenen Bankhaus selbständig. Ein Jahr später heiratet er die ebenfalls aus einem Bankhaus kommende Angela Cohen. Aus der Ehe gehen neben Elisabeth Müller die Brüder Ernst und Georg und die Schwester Margarete hervor.

Nach dem Besuch des Lyceums und dem Abitur an der Städtischen Studienanstalt Hannover, schreibt sich Elisabeth Müller 1915 in Heidelberg für das Fach Medizin ein, was für ein jüdisches Mädchen eine ausgesprochene Seltenheit ist. 1917 wechselt sie nach Göttingen, wo sie ihre medizinische Vorprüfung ablegt. Nach Absolvierung ihrer klinischen Semester in Heidelberg und München kehrt Elisabeth Müller nach Göttingen zurück und besteht dort im Herbst 1920 ihre ärztliche Staatsprüfung. Anschließend legt sie der Medizinischen Fakultät ihre Dissertation vor. Am 6. März 1922 wird Elisabeth Müller für ihre Arbeit „Ein Fall von Conglutinatio orificii externi uteri“, das ist eine Verklebung des äußeren Muttermundes, zum „Doktor der Medizin“ promoviert.

Nach Erteilung der Approbation arbeitet Elisabeth Müller als Assistenzärztin in Berlin und vollendet ihre Ausbildung an verschiedenen Kinderkliniken. 1925 kehrt sie nach Hannover zurück und lässt sich zunächst in der Königsstraße 39 als „Fachärztin für Säuglingspflege und Kinderkrankheiten“ nieder. 1927 verlegt Elisabeth Müller ihre Praxis in die Lavesstraße 64. Ihre Wohnung befindet sich An der Markuskirche 4. Sie ist erfolgreich und beliebt. Das berichtet Wilhelm Riehn, ein Oberarzt der Kinderheilanstalt nach der Zerschlagung Nazi-Deutschlands 1959 in einem „Wiedergutmachungsverfahren“. Und ihr Neffe Herbert Porta erinnert sich: “Bei uns hieß sie nur Tante Lieschen, und wir hatten sie sehr gern.“

Neben der Arbeit in ihrer Praxis widmet sich Elisabeth Müller weiterhin der Wissenschaft und arbeitet mit dem Hannoverschen Kinderarzt Professor Kurt Blühdorn auf dem Gebiet der Säuglings- und Kinderheilkunde. Der verliert 1933 seine Professur und kann buchstäblich in letzter Minute in die U.S.A. emigrieren. Auch in der Jüdischen Gemeinde Hannover ist Elisabeth Müller aktiv und berät die Zentralstelle für Wohlfahrtspflege bei der Planung von Ferienkolonien und begleitet die Kindererholung mit ihrem ärztlichen Rat.

Als den Nazis am 30. Januar 1933 die Macht übertragen wird, sieht sich Elisabeth Müller kurze Zeit später vor dem Ruin. Mit der „Verordnung über die Zulassung von Ärzten zur Tätigkeit bei den Krankenkassen“ endet die Tätigkeit von Kassenärzten „nichtarischer Abstammung“. Elisabeth Müller muss ihre Praxis schließen, da ihr nur wenige Privatpatienten bleiben, von deren Honoraren sie nicht leben kann. Unterstützung von ihren Eltern kann sie nicht erwarten. Das väterliche Bankhaus ist 1930 liquidiert worden.

1933 geht Elisabeth Müller, wahrscheinlich mit Hilfe der „Zentralstelle für Jüdische Wirtschaftshilfe“ mit einem Visum in die Schweiz und arbeitet an einer Kinderklinik in Lausanne. Die Tätigkeit ist nicht von Dauer und bietet keine Perspektive für eine Niederlassung als Kassenärztin. Immerhin kann sich Elisabeth Müller Grundkenntnisse in der Kinderpflege aneignen. Nach Ablauf des Visums kehrt Elisabeth Müller 1934 nach Deutschland zurück und eröffnet gemeinsam mit der Berufsschullehrerin Annerose Heitler ein Erholungsheim für jüdische Kinder im badischen Örtchen Bollschweil in der Nähe von Freiburg. Knapp vier Jahre lang kann sie im „Kinderheim „Sonnenhalde“ arbeiten. Im Spätsommer 1938 gelingt es Annerose Heitler, nach England zu emigrieren. Elisabeth Müller führt das Heim einige Wochen lang alleine weiter, zum Schluss mit noch 15 Kindern. Nach den Pogromen vom 9. und 10. November 1938 schließt sie die Sonnenhalde zunächst für sechs Wochen. Eine Cousine in Frankfurt notiert: „Vorgestern war Lieschen hier. Sie klagte sehr und weiß nicht, wie lange sie die Sache noch halten kann. Sie hat es nicht leicht. Sie möchte gerne nach Amerika, hat aber keine Beziehungen.“ Zum Jahresende 1938 kehrt Elisabeth Müller nach Bollschweil zurück und löst das Kinderheim auf.

Am 15. Januar 1939 ist Elisabeth Müller wieder in ihrer Geburtsstadt Hannover gemeldet. Als Oberin leitet sie das jüdische Krankenhaus und Altenheim in der Ellernstraße 16. „Sie ist sehr beliebt und sehr tüchtig“, schreibt eine Verwandte. Anfang September 1941 verschärfen sich die Zustände in der Einrichtung. Alle hannoverschen Jüdinnen und Juden müssen über Nacht ihre Wohnungen verlassen und werden einem der 16 „Judenhäuser“ zugewiesen. Elisabeth Müllers Eltern Angelika und Siegfried werden in die Ellernstraße 16 eingewiesen. Dies ist die letzte Station vor der Verfrachtung in die Vernichtungslager. Am 15. Dezember 1941 geht der erste Transport nach Riga. 52 Personen aus der Ellernstraße 16 sind darunter. Von da an leben die Menschen dort in ständiger Angst vor der Deportation. Angelika und Siegfried Müller sterben im März 1942 kurz vor dem zweiten Transport.

Am 23. Juli 1942 werden die verbliebenen Bewohnerinnen und Bewohner und das gesamte Personal, darunter auch die Oberin Elisabeth Müller, nach Theresienstadt deportiert. Auch in diesem „Vorhof der Hölle“ betreut Elisabeth Müller die ihr anvertrauten Alten und Kranken. Das letzte Lebenszeichen der hannoverschen Kinderärztin Elisabeth Müller ist eine Postkarte vom 10. Dezember 1943. An die ehemalige Haushälterin ihres gestorbenen Onkels Adolf Müller schreibt sie: „nun wird es Zeit, mal von uns hören zu lassen. Es geht uns gut. Ich bin Oberschwester in einem großen Heim“. Das „Heim“ ist die „Siechenstation“ von Theresienstadt. Am 19. Oktober werden 1500 „Häftlinge“ aus Theresienstadt nach Auschwitz verschleppt. Die Nummer 1292 trägt Elisabeth Müller.


Stolperstein Elisabeth Müller Foto: lopo

Quelle: Hans Schadek, Das jüdische Kinderheim „Sonnenhalde“ in Bollschweil bei Freiburg 1935 - 1939, Schau-ins-Land, Freiburg, 2007


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