Wer hätte das gedacht: Die Geschichte Niedersachsens beginnt am 14. Juni 849 in der mittelrheinischen Königspfalz Trebur. Dort stellte der ostfränkische König Ludwig der Deutsche die Bischofskirche in Verden unter seinen Schutz und verlieh ihr das Immunitätsprivileg. Die über diesen Vorgang ausgefertigte Urkunde ist das älteste Dokument im Bestand des Niedersächsischen Landesarchivs.

Die Umstände dieser Beurkundung sind nachzulesen in einem Buch, das Mitarbeiter*innen des Landesarchivs pünktlich zum 70. Geburtstag des Landes Niedersachsen herausgegeben haben. In 111 Dokumenten präsentieren sie die Geschichte dieses erst von der britischen Militärregierung mit der Verordnung Nr. 55 zusammengefügten Landes, das es offiziell seit dem 1. November 1946 gibt. Diese Verordnung ist als 91. Dokument in die etwas andere „Geschichte Niedersachsens“ eingegangen, wobei der Autor des zugeordneten Beitrags historisch korrekt darauf hinweist, dass die Länder Braunschweig und Oldenburg zunächst starke Abneigungen gegen die Zusammenführung hatten. Diese war noch einige Jahre lang so heftig, dass es 1956 in Oldenburg und Schaumburg-Lippe zu „Volksbegehren“ für die Schaffung eigener kam. Auch dies ist, versehen mit den entsprechenden historischen Anmerkungen, dokumentarisch belegt.

Mit dem 111. vorgestellten Dokument schließt sich der niedersächsische Geschichtskreis. Am 13. Mai 1993 wurde bei nur einer Gegenstimme im Niedersächsischen Landtag die Landesverfassung angenommen. Sie löste die vorläufige Verfassung aus dem Jahr 1951 ab, die unter dem Wiedervereinigungsvorbehalt gestanden hatte.

Zwischen dem ersten und 111. Dokument wird Niedersachsens Geschichte lebendig, denn Archive sind mitnichten stumm oder gar staubtrocken und die Mitarbeiter*innen dieses besonderen Geschichtsbuch machen mit viel Sachverstand Zusammenhänge allgemeinverständlich. So wird zum Beispiel deutlich, dass Friedrich Barbarossa seinen ärgsten Gegenspieler Heinrich den Löwen vom Herzog zum einfachen „Edelfreien“ degradierte und damit die Welfen kurzzeitig der Bedeutungslosigkeit entgegenleben ließ. Aber nur zwei Generationen später machten die Enkel diesen Vorgang zur Festigung des Reichszusammenhalts wenigsten teilweise rückgängig. Kaiser Friedrich II. belehnte 1235 Otto von Lüneburg mit dem Herzogtum Braunschweig-Lüneburg und ermöglichte so einen großen zusammenhängenden norddeutschen Staat, quasi einen Vorläufer des Landes Niedersachsen.

Es sind vor allem die Kleinigkeiten, die dieses Buch so spannend und unterhaltsam machen: Das Landesarchiv verfügt über eine Sammlung von Kerbhölzern aus dem 17. Jahrhundert. Auf denen wurden Kreditverträge jener Jahre fixiert. Wer also etwas auf dem Kerbholz hatte, war entweder Gläubiger oder Schuldner. Auch der „Westfälische Friede“, der am 24. Oktober 1648 den „Dreißigjährigen Krieg“ vertraglich beendete, ist als Dokument 35 In das Geschichtsbuch aufgenommen worden. Allerdings ist das Dokument mit den hoffnungsvollen Worten überschrieben worden: „Capitulatio Perpetua Osnabrugensis“, also „Ewiger Friede“. Diese Ewigkeit währte nur kurz.

Ein weiterer Eintrag lässt die niedersächsischen Lande zum Teil einer Weltmacht werden. Am 22. Juni 1701 verabschiedeten Unterhaus und Oberhaus in London einen Gesetzentwurf, der die britische Thronfolgeregelung zu Gunsten der Witwe des Hannöverschen Kurfürsten regelte. Die ausgefertigte Prunkurkunde wurde der Fürstin am 15. August 1701 im Leineschloss zu Hannover feierlich überreicht. Das war die Voraussetzung für die Personalunion und die Hofschranzen, des Englischen nicht wirklich mächtig, verkündeten: „Gott bleyst die Quin“. Das muss niemand wissen, aber es ist als wohlgefälliges Zitat brauchbar.

Da die Geschichte des Landes Niedersachsen — wie beschrieben — erst mit dem 1. November 1946 beginnt, ist dem Zeitraum seither viel Platz eingeräumt worden. So wird mit dem Dokument 89 der Speisezettel der Volkswagen Werksküche vom 29. Oktober 1945 vorgestellt. An jenem Tag gab es „Schottische Kohlsuppe und Brot“. Die Aufnahme von hunderttausenden von Flüchtlingen wird ebenso gewürdigt, wie der Bau des Niedersachsenstadion auf dem Trümmerschutt der Stadt Hannover. Selbstverständlich fehlt auch die Gründung der Hannover Messe im Jahr 1947 nicht. Allerdings fehlt der Hinweis, dass es sich bei den zur Legende gewordenen Fischbrötchen um Tunfischbrötchen gehandelt hat.

Mit dem Dokument 104 wird dem Niedersächsischen Innenminister am 3. Oktober 1962 mitgeteilt, dass von den 2988 italienischen Gastarbeitern 70 Prozent „kommunistisch“ gesinnt seien. Damit wollten die Polizeibehörden „gelegentliche Fälle von Landfriedensbruch und andere Straftaten“ erklären. Sinnigerweise ist dieser Abschnitt mit den Worten überschrieben: „Ein Telegramm aus dem kalten Krieg“.

Mit dem „Tanz auf dem Vulkan“ wird es richtig heiß und für viele furchterregend nass. Am 4. September 1982 gab es im Rahmen mehrtägiger Protestveranstaltungen gegen das geplante Atommüllendlager Gorleben eine Großdemonstration, die die Polizei zu einer Demonstration ihrer Wasserwerfermacht veranlasste. Das Foto der sich duckenden Demonstrant*innen vor dem Hintergrund eines anrückenden Wasserwerfers ist als Dokument 108 in das Geschichtsbuch aufgenommen worden. Es steht für den zivilcouragierten Aufbruch jener Jahre. Das Kapitel ist bis heute nicht abgeschlossen. Weiterhin wird nach einem Endlager für Atommüll gesucht und Gorleben ist immer noch in der Standort-Lotterie, obwohl hinlänglich bekannt ist, dass sich der Salzstock nicht eignet.

Dass die Autor*innen es geschafft haben aus über 100 Regalkilometern Dokumentenbestand die vorgelegten 111 auszuwählen, beschreibt Niedersachsen Ministerpräsident Stephan Weil, der von Amts wegen für das Landesarchiv zuständig ist, als „mutiges und gelungenes Experiment“. Dem ist nichts hinzuzufügen außer der Anmerkung: „Unbedingt lesen.“

Lothar Pollähne


Christine van den Heuvel, Gerd Steinwascher, Brage Bei der Wieden (Hrsg.), Geschichte Niedersachsen in 111 Dokumenten, 495 S., Wallstein Verlag, 2016, € 29,90

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