Von Lothar Pollähne

Dieses Buch ist kein Roman, auch wenn der Schutzumschlag dies suggeriert. Es ist ein journalistischer Faustschlag, der seine Wirkung irgendwo zwischen Solarplexus und Magengrube entfacht nach der Devise: „Eins in die Fresse, mein Herzblatt“. Es ist eine Anklage, die als Liebeserklärung verpackt ist: an die Zeitläufte und an den eigenen Beruf. Denn die Autorin Gabriele Tergit berichtet aus ihrem Alltag als Journalistin im Berlin des Jahres 1929.

Sie liebt diese Stadt und ihren Beruf und gleichzeitig hasst sie die allgegenwärtige, verlogene Aufgeblasenheit vieler Menschen, denen es einzig darum geht, möglichst täglich eine neue Sau durchs Dorf zu treiben. Die „Sau“ heißt „Käsebier“, ein mäßiger Vorstadt-Bänkelsänger, den ein mäßiger Zeilenknecht in seinem Käseblatt zum Showstar der Saison aufbläst. Das lässt die Zeilenknechte der anderen Käseblätter nicht ruhen, und in einem irren Artikel-Marathon wird Käsebier bis auf den Kurfürstendamm gespült, wo ihm windige Spekulanten ein eigenes Theater errichten lassen.

Das kann nur schief gehen, für Käsebier und die Spekulanten — und als es schief geht, haben die Zeilenknechte längst eine neue Sau aufgetrieben. Derweil ergötzt sich die so genannte feine Gesellschaft am Abstieg Käsebiers, der auch symbolisch ist für den eigenen Abstieg. Im Zweifelsfall wird das obligatorische Glas Champagner geschnorrt, um ja den Anschein der Dazugehörigkeit zu wahren und wenn es auch nur für einen Tag ist, denn am nächsten Tag wird der Gerichtsvollzieher vor der Tür stehen.

Das hört sich atemlos an, und es ist atemlos, geschrieben aus der Perspektive einer Tageszeitungs-Journalistin, die mit präzisem, analytischen Blick ihren Berufsstand seziert und der Gesellschaft den Zerrspiegel vorhält. Gabriele Tergit, ein Pseudonym für die promovierte Historikerin Elise Reifenberg, kann quasi „aus dem Nähkästchen“ plaudern. Schon während ihres Studiums veröffentlicht sie Feuilletons in der „Vossischen Zeitung“ und im „Berliner Tageblatt“.

1924 stellt der legendäre Chefredakteur des Tageblatts, Theodor Wolff, Gabriele Tergit als Gerichtsreporterin ein. Sie ist die erste Frau, die in diesem Metier arbeitet. 1927 schreibt Gabriele Tergit in Carl von Ossietzkys „Weltbühne“ nach einem Prozess gegen die Fememörder der „Schwarzen Reichswehr“ die weitsichtigen Worte: „Unsichtbar steht ein großes Hakenkreuz vor dem Richtertisch“. Auch über den ersten Prozess gegen Adolf Hitler und Joseph Goebbels vor dem Kriminalgericht Moabit berichtet sie, und das bringt sie auf die „schwarze Liste“ der Nazis.

Schon im März 1933 flüchtet Gabriele Tergit über die Tschechoslowakei nach Palästina. 1938 siedelt sie nach London über, wo sie als freie Schriftstellerin das Los vieler anderer Exil-Autorinnen und -Autoren teilt: Sie findet kaum Gehör. Im befreiten Deutschland wird Gabriele Tergit vergessen. Auch dies ein Schicksal, das sie mit vielen anderen teilt, wie etwa dem hannoverschen Autor Karl Jakob Hirsch. Gabriele Tergits Buch „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“, das 1931 im Berliner Rowohlt-Verlag erschienen war, wird erst 1977 im Rahmen der „Berliner Festwochen“ wiederentdeckt und ein paar Mal aufgelegt, um dann erneut vergessen zu werden.

Jetzt ist „der Käsebier“ im Verlag Schöffling wieder aufgelegt worden und darf ein weiteres Mal als „Entdeckung“ gefeiert werden. Darin ist zu lesen, dass Käsebier seine Karriere in einem Bierlokal mit Kabarettbühne in „Kottbus" beschließt, wo er dieselben mäßigen Lieder zum Vortrage bringt. Wer nun meint, dies sei einzig das atemlose Sittengemälde des Berlin der untergehenden Weimarer Republik, irrt gewaltig. Gabriele Tergits Buch über perfide Reklame und Sensationalismus könnte genau so gut heute spielen, denn die Zeit hat sich zwar geändert, die Akteure aber haben sich fortgepflanzt.


Gabriele Tergit, Käsebier erobert den Kurfürstendamm,
Verlag Schöffling & Co., Frankfurt, 2016, 399 S., € 24,95