Des Volkes Wille ist das höchste Gesetz November 1918: die ruhige ordentliche Revolution in Hannover
Am 6. November 1918 rollt spätabends die Revolution nach Hannover. Soldaten und Matrosen aus Kiel und Wilhelmshaven übernehmen nach einer kurzen Auseinandersetzung mit der Bahnhofswache den wohl wichtigsten Bahnknotenpunkt in Norddeutschland und kontrollieren so alle Verkehrsbewegungen. Diese Nachricht erschreckt den amtierenden Reichskanzler, Prinz Max von Baden, so sehr, dass er in seinen Erinnerungen notiert:
„Am unheimlichsten sind die Meldungen aus Hannover: die Stadt ist von zugereisten Marinemannschaften überrumpelt worden.“ Am Tag nach der „Überrumpelung“ ist die Zahl der revoltierenden Soldaten auf rund 1000 gewachsen. Führende Militärs sind geflüchtet, die Stadtverwaltung ist gelähmt, die Revolution hat allem Anschein nach nahezu kampflos gesiegt.
Noch am Vormittag des 7. November konstituiert sich ein provisorischer Soldatenrat. Dem jedoch mangelt es an Führungspersonal. Daher nehmen die Soldaten Kontakt zur hannöverschen Sozialdemokratie auf, von der sie sich Richtungsweisendes versprechen. Gemeinsam bilden sie einen „Vorläufigen Arbeiter- und Soldatenrat“ unter der Führung hochrangiger Sozialdemokraten. Die Soldaten nehmen dabei in Kauf, dass Hannovers Sozialdemokratie nicht gerade vor revolutionärem Elan sprüht, aber sie schätzen deren organisatorische Kraft und die reichsweite Vernetzung. Mit August Brey, Adolf Fischer und Friedrich Rauch ziehen gleich drei Reichstagsabgeordnete in den „Vorläufigen Arbeiter- und Soldatenrat“ ein und mit dem preußischen Landtagsabgeordneten Robert Leinert ein ausgebuffter Taktiker, der fortan maßgeblich die Ausrichtung des Gremiums bestimmt.
Die SPD verbreitet ein Flugblatt, das den weiteren Gang der „Revolution“ bestimmen soll:
An die Soldaten und Bevölkerung!
Die Reichstagsabgeordneten Brey, Fischer und Rauch sind in Verbindung mit vier Soldaten zum Generalkommando, um über die Forderungen der Soldaten zu verhandeln.
Es ist der dringende Wunsch der Soldaten, daß sich alles in Ruhe und Frieden vollzieht. Sie wünschen deshalb auch, daß die Arbeiter unter allen Umständen in den Betrieben bleiben.
In einem weiteren Flugblatt an die „Soldaten, Arbeiter, Genossen“ heißt es:
Kameraden! Eure Angelegenheit befindet sich in besten Händen!
Nach einem Gespräch mit dem Garnisonsältesten, Generalmajor Schaer, veröffentlicht der „Arbeiter- und Soldatenrat“ ein 20-Punkte-Papier, das unter 19. festlegt: „Die Arbeit in den Betrieben darf nicht eingestellt werden.“ Den Schlusspunkt des Papiers bildet die Anordnung: „Jeder muß Ruhe und Disziplin halten.“
Die Schriftstellerin Vicky Baum, die in jenen revolutionären Tagen in Hannover lebt, weil ihr Mann Kapellmeister am Opernhaus ist, zieht aus ihrer Sicht als Augenzeugin literarisch trocken Bilanz.
„Die Revolution war, glaube ich, nach russischem Muster geplant. Es wurde dann aber eine durch und durch deutsche Revolution: wohlorganisiert, geordnet, sauber, nüchtern. Das Theater bekam Befehl, weiterzuspielen wie gewöhnlich.“ Und geradezu sarkastisch ergänzt sie: „Zwischen dem Theater, dem nahegelegenen Bahnhof und dem Viertel, wo wir wohnten (Diederichstraße, lopo), bauten die Spartakisten Barrikaden, die jedoch bei Nacht mit den roten kleinen Laternen des Straßenamts gekennzeichnet wurden, damit sich niemand beim Überklettern die Zehen stieß. Ein besseres Symbol für diese ruhige ordentliche Revolution kann ich mir nicht denken.“
Am 8. November weht dann doch noch leichter revolutionärer Geist durch Hannover. Linke Soldaten, die mit den Forderungen des „Vorläufigen Arbeiter- und Soldatenrates“ nicht einverstanden sind, bilden einen unabhängigen Rat und fordern Versammlungsfreiheit und den Wegfall der Pressezensur. Die SPD sieht sich zum Handeln genötigt, will sie die erreichte Machtposition nicht auf’s Spiel setzen. Noch bevor es zu einer Großkundgebung der „Unabhängigen“ kommt, übernehmen Robert Leinert und Genossen kurzerhand den größten Teil der radikalen Forderungen. Lediglich die allgemeine Bewaffnung der Soldaten lehnen die Sozialdemokraten ab. Der Kompromiss gelingt und die Waffen- und Gerichtsgewalt bleibt in den Händen des „Vorläufigen Arbeiter- und Soldatenrates“ und damit bei der SPD. Ein wenig pathetisch erklärt August Brey nach dieser Einigung, „dass der Geburtstag des „Arbeiter- und Soldatenrates“ auch der Geburtstag eines freien Deutschlands ist, eines sozialistischen Deutschlands, denn nur in der Freiheit kann der Sozialismus gedeihen.“ (nach Friedrich Feldmann)
Kurzzeitig wird es noch einmal bedrohlich für die geregelte Revolution. Am 10. November trifft die so genannte „Bremer Fliegende Division“ in Hannover ein, ein 150 Mann starker Haufen von Revolutionären, Abenteurern und Marodeuren unter der Führung des Sanitätsfeldwebels Oskar Lünsmann. Sie wollen die Errungenschaften der Revolution schützen. Der Arbeiter- und Soldatenrat versucht, die Truppe einzubinden und Robert Leinert überträgt ihr den Schutz des Bahnhofs und der umliegenden Straßen, sowie das Aufspüren von Plünderern, die einem Standgericht zugeführt werden sollen. Das geht schief. Mitglieder der „Bremer Fliegenden Division“ plündern selber und ihr Anführer Oskar Lünsmann lässt am 12. November drei Soldaten wegen Plünderns ohne das vorgegebene Standgerichtsverfahren erschießen. Leinert lässt Lünsmann verhaften und vor ein Standgericht stellen, das ihn wegen Mordes zum Tode verurteilt. Der Rest der Truppe wird nach Bremen abgeschoben.
„Daß schon nach kurzer Zeit die Ruhe und Ordnung in Hannover wiederhergestellt war, ist ein besonderes Verdienst des Arbeiter- und Soldatenrates und der Wachsamkeit und Besonnenheit der hannoverschen Arbeiterschaft, der Gewerkschaften und der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands“, schreibt Friedrich Feldmann in seiner „Geschichte des Ortsvereins Hannover der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands“.
Dass sich vor allem Robert Leinert in diesen turbulenten Tagen ordnungspolitisch so stark engagiert, liegt in seinen Ambitionen begründet, das machtpolitische Vakuum in Hannover zu beenden. Da der langjährige Stadtdirektor Heinrich Tramm vor den anrückenden revolutionären Truppen nach Berlin geflüchtet ist, sieht der Arbeiter- und Soldatenrat als agierende Ordnungsmacht die Chance gekommen, grundlegende Veränderungen in der Stadtpolitik herbeizuführen. Am 10. November beginnen Verhandlungen mit den verbliebenen Stadtoberen, die einen Tag später in einem 6-Punkte-Papier zusammengefasst und veröffentlicht werden. Neben der Abschaffung der überkommenen Privilegien der Besitzbürger enthält es unter Punkt 2. die Bestimmung: „Zum Stadtdirektor wird ein Mitglied des Arbeiter- und Soldatenrates gewählt. Auch die beiden freien Stellen der unbesoldeten Senatoren sind durch Mitglieder des Arbeiter- und Soldatenrates zu besetzen.“ Da der Arbeiter- und Soldatenrat nicht darauf besteht, dass die Bürgervorsteher ihre Mandate aufgeben, gehen diese davon aus, dass es nicht zu radikalen Umwälzungen kommen wird. Der einstimmigen Wahl Robert Leinerts zum Nachfolger von Heinrich Tramm steht damit nichts im Wege. Seine Amtsbezeichnung lautet hinfort „Oberbürgermeister“. Leinert ist so der erste sozialdemokratische Oberbürgermeister einer deutschen Großstadt. Zu Senatoren werden die Gewerkschafter Christian Schrader und August Lohrberg ernannt.
In seiner Antrittsrede während der gemeinschaftlichen Sitzung der städtischen Kollegien am 15. November macht Robert Leinert deutlich, dass es mit ihm sozialistische Umwälzungen wie die Vergesellschaftung der Produktionsmittel nicht geben wird:
„Ich darf noch einmal wiederholen, daß wir mit dieser Bewegung Demokratie und Sozialismus wollen, und das muß durch die weitgehendsten Rechte jedes einzelnen Staatsbürgers gesichert sein. Es müssen Gesetze geschaffen werden, die uns diese Rechte sichern. Ich glaube, daß darüber alle beruhigt sein können, daß in nächster Zeit alle diese gesetzlichen Vorschriften erlassen werden.“
Sein legalistisches Staatsverständnis fasst Robert Leinert am 15. November 1918 in seinem Leitsatz für demokratische Kommunalpolitik zusammen: „Des Volkes Wille ist das höchste Gesetz!“
Von Lothar Pollähne
Fotos: Historisches Museum Hannover
Literatur:
Vicky Baum, Es war alles ganz anders, Frankfurt/Main, 1963
Friedrich Feldmann, Geschichte des Ortsvereins Hannover der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Hannover, 1952 (als Reprint erhältlich)
Klaus Mlynek und Waldemar Röhrbein (Hrsg.). Geschichte der Stadt Hannover, Band 2, Hannover, 1994
Anna Berlit-Schwigon, Robert Leinert, Ein Leben für die Demokratie, Hannover, 2012