Zum Inhalt springen
Sallstraße mit Nazarethkirche, Imperial War Museum, London Foto: Imperial War Museum, London
Sallstraße mit Nazarethkirche

9. April 2020: "Eine Wunde im Erdreich" | Am 10. April 1945 besetzen alliierte Truppen Hannover

Der Angriff beginnt um fünf Uhr früh im dichten Nebel. Von Westen her stoßen drei Regimenter der 84. Infanterie-Division der 9. US-Armee auf Hannover vor. Das 333. Regiment kommt von Havelse aus über den Mittelland-Kanal, das 334. Regiment dringt über die Schulenburger Landstraße, den Engelbosteler Damm und die Vahrenwalder Straße in Richtung Stadtmitte vor. Einzig das 335. Regiment stößt an der Limmer Schleuse auf leichten Widerstand, der nach einem kurzen Feuergefecht beendet wird. Dabei finden 23 junge Marineinfanteristen den Tod.

Sie hätten Hannover mit Platzpatronen verteidigen sollen. Über die Limmerstraße gelangen die US-Soldaten bis zur Ihme-Brücke an der Spinnereistraße, wo der letzte Panzer für den „Endsieg“ auf sie wartet. Gegen elf Uhr erreichen die ersten Einheiten das Rathaus. Die Übergabe der Stadt geschieht unspektakulär, wie sich Stadtrat Weber erinnert:

„Ich setzte mich mit Weyberg ins Zimmer des Oberbürgermeisters und wir rauchten noch die letzte dicke Zigarre. Da riss ein Ratsdiener die Tür auf, und zwei mit Maschinenpistolen bewaffnete Soldaten kamen herein und hinter ihnen ein (englischer) Captain Johnson, der mich fragte. „Sind Sie der Oberbürgermeister von Hannover?“ „ Nein, ich vertrete ihn. Er ist abwesend!“ „Dann teile ich Ihnen mit, dass die alliierten Truppen Hannover besetzt haben und dass alles der alliierten Truppengewalt untersteht!“ „Ich nehme davon Kenntnis!“ Mit diesen Worten vollzog sich die offizielle Übergabe der Stadt Hannover an die Alliierten.“

Währenddessen rücken alliierte Einheiten in Richtung Südstadt vor — oder besser in die Trümmerwüste, die von der Südstadt übrig geblieben ist. Dort sieht es so aus, wie es der britische Journalist Leonard O. Mosley wenige Tage nach dem Einmarsch beschreibt: „Hannover glich eher einer Wunde im Erdreich als einer Stadt.“ Mosley wusste wovon er schrieb. Er kannte Hannover aus Vorkriegszeiten. Die Alliierten requirieren Gebäude für ihre Besatzungsverwaltung, so etwa in der Heiligengeiststraße, wo sie in einer Villa ihre Abhörzentrale einrichten. In die Gebäude des ehemaligen „Generalkommandos“ am „Misburger Damm“ (heute: „Hans-Böckler-Allee“) zieht wenig später die Provinzial-Militärregierung ein.

Am 10. April gegen Mittag melden sich im Rathaus der ehemalige Polizeipräsident Emil Barth, Heinrich Möhle und der ehemalige stellvertretende Vorsitzende des Fabrikarbeiterverbandes, Albin Karl, berufen sich auf ihre früheren Tätigkeiten als Sozialdemokraten in Verwaltungen und Gewerkschaften und schlagen dem USAmerikanischen Kommandanten die Ernennung des ehemaligen Misburger Oberbürgermeisters Gustav Bratke für das Amt des Oberbürgermeisters und Emil Barth für das Amt des Polizeipräsidenten vor. Sie handeln im Auftrag mehrerer Untergrundgruppen, die sich in den letzten Kriegsmonaten intensiv auf die Zerschlagung Nazi-Deutschlands vorbereitet haben. Die drei Bittsteller werden für den nächsten Tag ins Rathaus einbestellt.

Am Nachmittag des 10. April herrscht noch einmal Aufregung, als ein deutsches Aufklärungsflugzeug über Hannover kreist. Es dreht nach kurzem Beschuss durch die Alliierten wieder gen Osten ab. Drei „Pimpfe“ werden vor dem „Neuen Haus“ durch einem besonnenen Bürger davon abgehalten, mit Panzerfäusten gegen alliierte Panzer zu kämpfen. Am Abend des 10. April 1945 ist in Hannover der Krieg vorbei.

Einen Tag später ernennt der USAmerikanische Kommandant nach kurzer Personenüberprüfung Gustav Bratke zum Oberbürgermeister dessen, was von Hannover noch geblieben ist. Egon Barth wird als Polizeipräsident berufen. Albin Karl und Heinrich Möhle erhalten den Auftrag, einen „Ausschuss für Wiederaufbau“ zu bilden, auch dies eine Forderung aus den unterschiedlichen Untergrundorganisationen. Der Ausschuss bildet ein politisches Spektrum ab, das von der radikalen Linken bis zu bürgerlichen Nazi-Gegnern reicht. Albin Karl wird Vorsitzender und damit so etwas wie ein Oberstadtdirektor, denn Gustav Bratke ist eher die Symbolfigur eines nicht nationalsozialistischen Hannover.

Hannovers ehemaliger Oberbürgermeister Herbert Schmalstieg stellt den „Ausschuss für Wiederaufbau“ als wesentliches Instrument für die Erringung demokratischer Strukturen dar:

„In nur sechs Wochen hatte der ‚Ausschuss für Wiederaufbau‘ eine gewaltige Arbeitsleistung vollbracht. Dazu gehörten die Wiederingangsetzung lebenswichtiger Versorgungs- und Verkehrseinrichtungen, ebenso wie personelle Säuberungen in Verwaltung, Handel und Gewerbe, der Neuaufbau eines demokratischen Schulwesens, die Auswahl von Betriebsräten und die tatkräftige Unterstützung beim Wiederaufbau von Gewerkschaften. Für viele Ratsuchende war in der damaligen Zeit das Zimmer 143 im Rathaus, in dem der Ausschuss regelmäßig tagte, zur letzten Hoffnung geworden.“

Am 1. Juni 1945 endet die Tätigkeit des „Ausschuss für Wiederaufbau“, weil der neue britische Stadtkommandant alle Ausschüsse in Hannover verbietet. Die Briten haben damit für längere Zeit das alleinige Sagen in der Stadt.

Quellen:

Thomas Grabe u.a., Unter der Wolke des Todes, Kabel-Verlag, Hamburg 1983
Thomas Grabe u.a., Wege aus dem Chaos, Kabel-Verlag, Hamburg 1983
Helmut Jacob, Die Südstadt in Hannover, Wennigsen 1993
Klaus Mlynek und Waldemar Röhrbein (Hrsg.), Hannover — Geschichte einer Stadt Bd. 2, Hannover 1994
Ulrich Schröder, Arbeiterinitiative 1945, Nachdruck mit frdl. Genehmigung des Peter-Hammer-Verlages , SPD-Unterbezirk Hannover, o.J.

Fotos:

Sallstraße mit Nazarethkirche, Imperial War Museum, London
Tote Soldaten an der Harenberger Straße am 10. April 1945, Landesbildstelle Hannover
Ruine des Gloriapalastes in der Hildesheimer Straße mit passendem Filmplakat, Privatbesitz
US-Jeep vor dem Hauptbahnhof am 10. April 1945, Landesbildstelle Hannover
Kochstelle am Bischofsholer Damm, Privatbesitz
Albin Karl, Privatbesitz
Sperrgebiet Sonnenweg am Henriettenstift, Stadtarchiv Hannover
Südstadt, von der Eisfabrik aus gesehen, Privatbesitz

Vorherige Meldung: Der Ausbau des Frauenhaus24 ist ein wichtiger Schritt um Hilfe für Gewaltopfer sicherzustellen

Nächste Meldung: "Canale Grande" zum Gedenken | Am 26. April 1995 starb Egon Franke

Alle Meldungen