2017 ist, auch wenn Sie dies vielleicht irritiert, ein Wilhelm-Raabe-Jahr. Wie das, mögen Sie fragen. Wilhelm Raabe ist 1831 geboren und 1910 gestorben. Da greift gewöhnlich keine Erinnerungskultur, und ich kann nur sagen: Gemach. Die Wilhelm-Raabe-Schule liegt an der Langensalzastraße. Die müsste eigentlich eine Sackgasse sein, denn am 27. Juni 1866 ging das Königreich Hannover im thüringischen Städtchen Langensalza seinem Ende entgegen.

Zwar besiegte es die Preußen. Aber zwei Tage später musste die Königlich Hannöversche Armee, bar jeder Kriegsmittel und völlig erschöpft, kapitulieren. Am 3. Juli schlugen die Preußen erneut zu und siegten über die Österreichischen Armeen bei Königgrätz. Danach wurde das Königreich Hannover von Preußen annektiert und am 1. Oktober 1866 wurde dies gesetzlich besiegelt. Manche von Ihnen werden jetzt vielleicht fragen: Toll, aber was hat das mit Wilhelm Raabe zu tun? Gemach. Die Aufklärung folgt sogleich.

1866 lebte Wilhelm Raabe in Stuttgart und befand sich in „heimatloser Stimmung“. Er saß in den Korrekturen zu seinem nächsten Roman und wünschte sich die Rückkehr nach Norddeutschland. Der Roman heißt „Abu Telfan“ und erschien Anfang des Jahres 1867, in einem Jahr, das für die deutsche Geschichte durchaus trächtig war. Am 24. Februar 1867 fand die erste Sitzung des Reichstages des „Norddeutschen Bundes“ statt, und das manifestierte nördlich des Maines die bundesstaatlich organisierte, von Preußen forcierte Vereinigung vieler kleinerer Staaten. Das war gewiss im Sinne Wilhelm Raabes, der — obwohl vom Gestus her konservativ — mit der deutschen Kleinstaaterei nichts am Hut hatte. Raabe war bereits 1860 dem liberalen „Deutschen Nationalverein“ beigetreten und 1866 in Stuttgart Mitgründer der nationalliberalen „Deutschen Partei“, die für einen deutschen Bundesstaat unter der Führung Preußens eintrat.

„Abu Telfan" beschreibt die deutsche Kleinstaaterei aus der Perspektive des Heimkehrers Leonhard Hagebucher, der zehn Jahre lang als weißer Sklave im Tumurkieland am Mondgebirge gelebt hatte. Im erfundenen Kleinstädtchen Nippenburg dominieren Hof, Militär, Polizei und Kleingeisterei. Hagebucher vergleicht diese deutsche Gegenwart mit der Offenheit und Liberalität im Tumurkieland in einer Weise, dass der Eindruck entsteht, dieses ferne Land sei die eigentliche Heimat des ehemaligen Sklaven. Als er diese Erkenntnis auch noch öffentlich vorträgt, schreitet die Polizei ein und teilt mit, „dass eine hohe Behörde nach reiflicher Überlegung zu der Überzeugung gekommen sei, es sei ihre Pflicht, ein ruhiges, aber festes Veto gegen alle ferneren Produktionen dieser Art einzulegen.“ Für Leonhard Hagebucher ist klar, dass Deutschland schlimmer ist als das Mondgebirge.

Für die Wochenzeitung die ZEIT war „Abu Telfan" so bedeutsam, dass das Buch als Band 60 in die „ZEIT Bibliothek“ aufgenommen wurde. Die Begründung für diese Auswahl lieferte der in Hannover nicht ganz unbekannte Literaturwissenschaftler Hans Mayer und zitierte dabei den ungarischen Philosophen und Literaturkritiker Georg Lukács: „Raabe verurteilt mit großer Schärfe die deutsche Kleinstaaterei und ihren feudal-monarchistischen Charakter: Er sieht in ihr einen Sumpf des kleinlichsten Philistertums. Sie ist jeder anständigen individuellen wie sozialen Regung feindlich. Jeder bedeutende, ja schon jeder streng moralische Mensch wird in dieser Welt zum Paria, zum outcast.“ Hans Mayer fügt hinzu. „Liest man „Abu Telfan“, ein hinreißendes Buch, das man aber in Ruhe durcharbeiten und reflektieren muss, weil der Erzähler alle vordergründige Spannung vermeidet und die aufregenden Episoden nicht vorführt, sondern nachträglich referieren lässt, so wird unabweisbar, dass Raabes Grundmodell immer noch vorhanden ist. Auch dieses Buch behandelt die „Deutsche Misere“.“

„Niemand muss nüchterner in die Welt hineinsehen als ein ernster Romanschreiber“, hat Wilhelm Raabe 1895 erklärt. Das mag vielleicht nach vielen Jahren seiner zum Teil schmerzhaften Erkenntnisse ein Stück Selbstvergewisserung gewesen sein, erklärt aber auch, warum Raabe es immer von sich gewiesen hat, ein „Heimatdichter“ zu sein. Das war ihm zu kleinstaatlich. Wilhelm Raabe stand, nicht nur mit „Abu Telfan", für das große Ganze, und da drängt sich zu Beginn des Jahres 2017 die Frage auf: Was hätte der Meister zu den Zuständen Europas gesagt, die sein Grundmodell in umgekehrter Weise widerspiegeln. Diese Frage muss heute niemand beantworten, aber mit diesen Zuständen müssen wir uns auseinandersetzen, denn in fast allen Ländern Europas sind Menschen politisch unterwegs, die zwar die Vorteile der europäischen Vereinigung gerne mitnehmen, sich aber ansonsten einheitsfeindlich präsentieren. Ob sie Orban, Kascinski, Le Pen, Grillo oder Petry heißen, ist unerheblich, denn sie haben vor allem eine schreckliche Perspektive: die nationale Größe. Was eigentlich glauben diese Populisten, wie groß sie sind? So groß, dass sie ohne Europa wieder feudale Zustände erreichen könnten? Selbst den Brexitanniern wird das nicht gelingen. Aber sollten wir dennoch Europa in Frage stellen? Nein. Genauso wenig, wie die Zusammenführung deutscher Kleinstaaten zu einem Nationalstaat.

Nach der Schlacht von Königgrätz, die immerhin eine Teileinigung kleiner deutscher Staaten nach sich zog, spottete Wilhelm Raabe über die Kritikaster: „Für wie viele Leute ist die Schlacht bei Königgrätz nur geschlagen worden, um das Zehnpfennigporto für Briefe einzuführen“. Ojeoje. Verglichen mit den Nörgeleien, die Kleingeister vor 150 Jahren von sich gaben, sehen wir uns heute Herausforderungen gegenüber, die ein wenig mehr erfordern als einheitliche Briefmarken.

„Europa gegen die Kleinstaaterei“, das muss die Parole für das Jahr 2017 sein. In diesem Sinne wünsche ich uns Allen alles Gute.