Als Orli Wald Anfang März1948 zu ihrem Mann Eduard nach Hannover kommt, ist dies für beide der Versuch eines Neuanfangs, politisch wie privat. Dass es nicht einfach werden würde, liegt auf der Hand, denn beide sind nach den langen Jahren der KZ- und Gefängnishaft gesundheitlich angeschlagen und beiden droht die politische Heimat, die KPD, abhanden zu kommen.

Im Oktober 1948 vollzieht Edu Wald den Bruch mit der stalinistisch gewendeten KPD und als er daraufhin in den Ostberliner Zeitungen als britischer Agent gebrandmarkt wird, tritt Orli Wald aus der SED aus, der sie 1946 beigetreten war. Diese Entscheidung stürzt sie in eine tiefe Krise, weil ihr bewusst wird, dass sie in Hannover persönlich wie politisch ziemlich isoliert dasteht. In einem Brief an eine Kameradin aus dem KZ Ravensbrück schreibt Orli Wald, dass sie sich in Hannover „wie im Exil“ fühle.

Wegen ihres wenig stabilen Gesundheitszustandes, auch auf Grund einer Medikamentenabhängigkeit, ist Orli Wald weder in der Lage, einer kontinuierlichen beruflichen Tätigkeit nachzugehen, noch sich ehrenamtlich – etwa bei der Arbeiterwohlfahrt — zu engagieren. Neben einer schweren Tuberkulose-Erkrankung sind es vor allem die Schrecken der Erinnerung an die KZ-Verbrechen, die Orli Wald Tag und Nacht beschäftigen. Edu Wald rät ihr, diese Erinnerungen aufzuschreiben und hofft, dass dies therapeutische Wirkung haben möge. Das Gegenteil ist der Fall. Indem Orli ihre Erlebnisse der langen KZ-Zeit aufschreibt, durchlebt sie diese noch einmal und verfällt in Zustände tiefer Traurigkeit; zeitweise sieht sie keinen Sinn mehr in ihrem Leben.

Dennoch gelingt es ihr, einige von Wut, Trauer und Hoffnungslosigkeit geprägte Prosastücke zu schreiben, so die Geschichte über das blinde jüdische Mädchen Christel, das Orli wochenlang pflegt wie ein eigenes Kind, um es dann doch einem SS-Mann geben zu müssen, der das Kind mit Phenol totspritzt. Dass Orli Wald die Kraft zu dieser Geschichte aufbringt ist bemerkenswert, denn sie musste in jenen Tagen aus gesundheitlichen Gründen eine eigene Schwangerschaft abbrechen lassen. In ihren Erinnerungen an jenen schrecklichen Tag schreibt Orli Wald, dass sie den Täter mit dem Mut der Verzweiflung angeschrien hat: „Sie sind ein Mörder und dafür werden sie sich eines Tages verantworten müssen.“

Auch diese Hoffnung wird im neuen Deutschland enttäuscht. Ohnmächtig muss sie mitansehen, dass die Mörder unter uns geblieben sind und wie in der Nazizeit verantwortungsvolle Positionen einnehmen. Orli Wald muss die bittere Erfahrung machen, dass viele Ärzte und Gutachter keinen Zusammenhang zwischen ihren Depressionen und den grauenvollen Erfahrungen in den Konzentrationslagern sehen wollen. 1955 kommt ein Gutachter der Psychiatrischen Klinik Tiefenbrunn zu der Auffassung, „dass die Depressionen und die Sucht anlagebedingt, nicht einmal durch die Haft ausgelöst sind.“ Dass die Toten Nacht für Nacht aufstehen, wie es Edu Wald beschreibt, ist der Gegenbeweis zu dem ignoranten Urteil des Tiefenbrunner Mediziners.

Spätestens jetzt beginnt für Orli Wald der langandauernde Abschied. Immer wieder muss sie sich in stationäre psychiatrische Behandlung begeben und die Abstände zwischen den Behandlungen verringern sich. 1961 beginnt in Jerusalem der Eichmann-Prozess und in Frankfurt trifft Fritz Bauer die ersten Vorbereitungen für den Auschwitz-Prozess. Orli Wald will in diesem Prozess als Zeugin aussagen, aber die Erinnerungen an das Vernichtungslager verschlimmern ihre Krankheiten. Schließlich klagt sie sich selbst an, nicht genügend für ihre Mithäftlinge getan zu haben.

Im Juli 1961 wird Orli Wald in die Wahrendorffschen Anstalten in Ilten eingewiesen, die sie am 23. Dezember noch einmal für zwei Tage probeweise verlassen darf. Es geht nicht gut. „Rund 14 Jahre lang hat Orli Wald in Hannover darum gerungen, nicht den Verstand zu verlieren“, schreiben ihre Biographen Bernd Steger und Edus Sohn Peter Wald. Ihr Ringen stand unter keinem guten Stern. Orli Wald, die vielen Menschen das Leben rettete, stirbt am 1. Januar 1962 am eigenen Überleben von Auschwitz und an der Zermürbung durch den Kampf um Rente und Wiedergutmachung.

Daran zu erinnern halte ich an Orli Walds 100. Geburtstag für unsere Pflicht. Ich weiß natürlich nicht, was ihr zuletzt durch den Kopf gegangen ist, aber ich könnte mir vorstellen, dass Orli Wald in Gedanken bei der kleinen Christel war, die sie in die mörderischen Hände der Mengele-Schergen hatte geben müssen. Mit Respekt verneige ich mich vor dieser großen Kämpferin gegen Unmenschlichkeit und Verdrängung.

Foto: Orli Wald: Foto Privatbesitz

36. Osterfeuer der SPD Südstadt-Bult