Karl Marx, das "Kapital" und Hannover Am 5. Mai 1867, seinem 49. Geburtstag, korrigierte Karl Marx mit seinem Freund Louis Kugelmann in Hannover die ersten Blätter seines Hauptwerkes
Am 16. April 1867 erhält der hannöversche Arzt Louis Kugelmann ein Telegramm aus Hamburg mit dem Wortlaut: „Ich komme heute Abend gegen neun. Marx.“ Nach mehrjähriger Korrespondenz und vielfachen Besuchsankündigungen ist es nun endlich so weit: Das langersehnte Treffen würde stattfinden. Das versetzt Gertrud Kugelmann, Louis’ junge Frau, in „einige Besorgnis“.
„Sie erwartete, einen ganz von seinen politischen Ideen erfüllten, der modernen Gesellschaftsordnung feindlich gegenüberstehenden Gelehrten zu sehen“, erinnert sich die Tochter Franziska Kugelmann. Aber es kommt ganz anders. Louis Kugelmann holt Marx vom Zuge ab. „Als die Herren vom Bahnhof kamen, begrüßte sie anstatt des erwarteten düsteren Revolutionärs ein heiterer hochgewachsener, eleganter Kavalier, dessen gemütlicher rheinländischer Dialekt ihr gleich besonders anheimelnd war.“ So beschreibt Franziska Kugelmann die Reaktion ihrer Mutter.
Karl Marx gedenkt, etwa eine Woche lang in Hannover zu bleiben, ein paar geruhsame Tage zu verleben und mit Louis Kugelmann über das „Kapital“ zu diskutieren, das in Hamburg im Verlag von Otto Meißner erscheinen soll. Gedruckt werden soll Marxens Hauptwerk in Leipzig, aber die Drucklegung verzögert sich, und daher muss Karl Marx länger in Hannover bleiben, als er vorgesehen hatte. Marx bleibt gerne bei den Kugelmanns. Er fühlt sich ausgesprochen wohl in der hannöverschen Provinz. Am 24. April 1867 schreibt er an Friedrich Engels über Hannover: „Wir zwei haben doch eine ganz andere Stellung (…) unter dem gebildeten Beamtentum, als wir wissen.“
Karl Marx unternimmt mit Louis Kugelmann ausgedehnte Spaziergänge durch die Eilenriede, bei denen sie sich über den Zustand des „Bundes der Kommunisten“ unterhalten und sich über die Gesundheitslage der Arbeiterklasse austauschen. Kugelmann als „Kassenarzt für Arbeiter“ und Marx als Kenner der englischen Verhältnisse. Durch Louis Kugelmann gewinnt Karl Marx für kurze Zeit Eingang „in die Herrlichkeiten Hannovers“: Marx und die Kugelmanns gehen gemeinsam in die Oper, besuchen Konzerte im „Odeon“ und im „Tivoli“ und vergnügen sich in den verschiedenen Parks, die Marx als „viel geschmackvoller angelegt“ findet „als irgendwelche in London.“
Angeblich soll sich Karl Marx in jenen Tagen auch mit Rudolf von Bennigsen, einem der führenden Politiker des „Norddeutschen Bundes“, getroffen haben. Verbürgt ist das nicht, aber ein Polizeibericht bezeichnet seinerzeit Louis Kugelmann als „Verbindungsmann zwischen Bennigsen und Marx“. Marx trifft sich mit dem Chef des hannöverschen Eisenbahnwesens, Maybach, und besucht das „Hannoversche Guß- und Walzwerk“, in dem gerade das Hermannsdenkmal hergestellt wird, was Marx mit mildem internationalistischem Spott über die schleppende Fertigstellung des nationalistischen Kolosses in einem Brief am Friedrich Engels kommentiert.
Am 5. Mai 1867, Marxens 49. Geburtstag, ist die Wartezeit auf die Korrekturbögen aus Leipzig endlich zu Ende. Marx und Louis Kugelmann machen sich über die auf 50 Seiten angewachsene Zahl der Korrekturbögen her. Kugelmann ist im Einvernehmen mit Friedrich Engels der Ansicht, dass das Werk zu abstrakt sei und einer didaktischen Überarbeitung bedürfe. Daran arbeiten Kugelmann und Marx. Im Vorwort zur 2. Auflage des „Kapitals“ bemerkt Marx: „Ich befand mich bei ihm (Kugelmann) zu Besuch im Frühling 1867, als die ersten Probebogen von Hamburg ankamen, und er überzeugte mich, dass für die meisten Leser eine nachträgliche, mehr didaktische Auseinandersetzung der Wertform nötig sei.“
Bevor Karl Marx am 15. Mai 1867 aus Hannover abreist, schreibt er anerkennend an Friedrich Engels: „Er (Kugelmann) besitzt eine viel beßre Sammlung unserer Arbeiten, als wir beide zusammengenommen.“ Für Karl Marx ist Louis Kugelmann in jenen Jahren ein wichtiger Ratgeber, weil er nicht in seinem medizinischen Fachgebiet der Gynäkologie verhaftet ist. „Kugelmann“, schreibt Marx, sei nicht nur „ein sehr bedeutender Arzt (…), sondern auch „ein fanatischer (und mir zu westfälisch bewundernder) Anhänger unsrer Doktrin und unsrer beiden Personen. Er ennuyiert mich manchmal mit seinem Enthusiasmus, der seinem in der Medizin kalten Wesen widerspricht. Aber er versteht, und er ist grundbrav, rücksichtslos und aufopferungsfähig, was die Hauptsache ist, überzeugt.“
In einem Brief an Friedrich Engels zählt Karl Marx seinen Besuch bei den Kugelmanns „zu den schönsten und erfreulichsten Oasen in der Lebenswüste“. Ein Exemplar des ersten Bandes des „Kapital“ widmet Karl Marx bei einem Besuch am 14. September 1869 „seinem Freund Dr. Kugelmann“.
Karl Marx stirbt am 14. März 1883 in London. Sein monumentales Grab befindet sich, öffentlich zugänglich, auf dem „Highgate Friedhof“ in London. Louis Kugelmann stirbt am 9. Februar 1902 in Hannover. Sein Grab befindet sich, nur mit Führungen zugänglich, auf dem „Jüdischen Friedhof“ an der Strangriede in Hannovers Nordstadt.
Von Lothar Pollähne
Quellen:
Martin Hundt, Louis Kugelmann, Berlin (DDR) 1974
Franz Mehring, Karl Marx, Geschichte seines Lebens, Berlin (DDR) 1983
Karl Korsch, Karl Marx, Frankfurt am Main 1967
Fotos
Louis Kugelmann, Foto Friedrich Karl Wander
Karl Marx, Archiv