Abzweigend von der Anna-Zammert-Straße führt die Tiestestraße in südlicher Richtung bis zur Jordanstraße. Sie wurde 1919 nach dem Wundarzt Heinrich Tieste benannt und nahm ihren Ausgang ursprünglich am Ende der Kleinen Düwelstraße. In der Tiestestraße 39 (damals 19) wohnte bis zu seiner Flucht vor den Nazis der Bibliothekar und Schriftsteller Werner Kraft mit seiner Familie.

Porträt Heinrich Tieste  Stadtfriedhof Engesohde Feld 28B Nr. 11A/B

Heinrich Tieste

Dass dem Sohn eines Moorkolonisten einmal die Ehre zuteil werden würde, Namensgeber für eine Straße zu werden, ist 1815 nicht anzunehmen. Genau dies jedoch widerfährt Heinrich Tieste 1919. Wenig ist bekannt über Hannovers letzten Wundarzt 2. Klasse, aber in der Stadtgesellschaft ist sein Name weit über den Tod hinaus legendenbehaftet.

Geboren wird Anton Conrad Heinrich Tieste am 29, November 1815 in Hagenburg beim Steinhuder Meer, wo der Vater in Erbpacht einen Streifen gerodetes Moorland beackert. Die Familie kann er davon kaum ernähren, weshalb er in seinem Zweitberuf als Lohgerber arbeitet. 1825 zieht die Familie nach Linden bei Hannover, wo der Vater wieder als Lohgerber tätig wird. Wahrscheinlich besucht Heinrich Tieste in Linden die Dorfschule. Danach begibt er sich auf Wanderschaft.

Als er sich am 11. März 1839 am Collegium anatomico-chirurgicum in Braunschweig immatrikuliert, das an das Collegium Carolinum, die heutige Technische Universität angegliedert ist, gibt er an, als Barbier tätig gewesen zu sein und Lateinkenntnisse zu besitzen. Ein Jahr lang studiert Heinrich Tieste auf dem Braunschweiger „Anatomieberg“, wo er es vor allem mit Leichen zu tun bekommt, denn eine Verordnung im Herzogtum Braunschweig bestimmt: „Wenn Züchtlinge im Werkhause, Hospitalisten zu St. Leonhard, Arme, die ihren Unterhalt aus den Armen-Anstalten haben, Huren und Hur-Kinder versterben, soll solches dem Collegio Medico allemal gemeldet und solche Cadavera, wenn das Collegium Medicum es verlanget, dem Theatro Anatomico verabfolget werden.“

Ein Jahr lang bleibt Tieste in Braunschweig, dann wechselt er an das vergleichbare Collegium in Hannover, wo er 1842 die Prüfung zum Wundarzt vor der Ärztlichen Kommission ablegt. Zwei Gesuche, als Wundarzt in Hagenburg tätig zu werden und gleichzeitig die Erbpacht auf dem ehemals vom Vater bewirtschafteten Moorgrundstück zu erlangen, scheitern an den schaumburg-lippischen Behörden.

Im Laufe des Jahres1843 muss Heinrich Tieste in Hannover die Zulassung als 2. Wundarzt und Geburtshelfer erlangt haben, denn schon im Jahr darauf ist er im städtischen Adressbuch aufgeführt. Tieste wählt die gerade im Entstehen begriffene Südstadt als Tätigkeitsfeld. Das gewährt ihm eine wachsende Patienten*innenzahl, aber nur ein geringes Einkommen, denn in dem Gebiet der heutigen Südstadt leben Gartenkosacken und andere arme Leute. Heinrich Tieste nimmt das in Kauf und hält nach Behandlungen die Rockschürze hoch und die Patient*innen honorieren den Arzt nach ihren Möglichkeiten. Mitte des 19. Jahrhundert gehen die Menschen nicht zum Arzt sondern lassen nach dem Arzt rufen. Tieste muss also bei Wind und Wetter raus und seine Patient*innen zu Fuß aufsuchen, was ihm im Volksmund den Namen „Dr. Lopendod“ einträgt.

Ob er wirklich wie der „Tod auf Latschen“ daherkam, ist nicht überliefert, aber dass er sich mit seinen Patient*innen „auf Platt“ unterhielt und mit ihnen über die Kinder, die Essgewohnheiten sowie „Gott und die Welt“ schnackte, erinnerten viele Menschen noch Jahre nach seinem Tod. Als Heinrich Tieste am 21. Januar 1882 in Hannover stirbt, stirbt damit auch der Beruf der „Wundärzte“ in der Leinestadt. Heinrich Tieste ist mit seiner Frau Betty auf dem Stadtfriedhof Engesohde begraben. Das Grabmal, ein roter Obelisk, gilt als „bedeutend“. Darauf ist eine Relief-Plakette mit dem Antlitz des jungen Heinrich Tieste angebracht. Dies ist die wohl einzige Abbildung von „Dr. Lopendod“.


Porträt Heinrich Tieste Stadtfriedhof Engesohde Feld 28B Nr. 11A/B Foto: lopo


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