An der Einfahrt zum Bahnhof Wernigerode liegt jenseits der Gleise in einem Gewerbegebiet — unübersehbar deplatziert — eine Villa, die genau so gut im wilhelminischen Berlin hätte stehen können: die Villa Russo. Diesem Haus hat Julia Nelki ein Buch gewidmet, das den etwas irreführenden Untertitel „Eine deutsche Geschichte“ trägt, denn es handelt sich um eine Familiengeschichte und viele Geschichten, die ihren Bezugspunkt in der Villa Russo haben.

Julia Nelki ist die Großnichte des Bauherrn Moritz Russo, der Ende des 19. Jahrhunderts als assimilierter Jude nach Wernigerode kommt und dort eine Harzer Käsefabrik gründet. Moritz Russo ist erfolgreich, anerkannt und zum Christentum übergetreten und hat die Villa als steingewordenen Ausweis seiner gesellschaftlichen Stellung nach den Plänen des renommierten Berliner Architekten Hans Grisebach direkt neben die Käsefabrik bauen lassen. 1897 tritt Moritz’ jüngerer Bruder Benno als Teilhaber in das Unternehmen ein. 1918 trennen sich die Wege der Brüder. Benno holt aus Berlin seine Verlobte Clara Jaffé, eine bekannte Opernsängerin, nach Wernigerode und Moritz zieht nach Berlin, wo er zeitweilig bei seiner Schwester Ernestine, Julia Nelkis Großmutter, lebt. 1939 müssen Clara und Benno Russo die Villa, die inzwischen zwangsverkauft ist, verlassen. Am 25. November 1942 werden sie von Halberstadt aus in das Ghetto Theresienstadt verfrachtet. Benno stirbt dort am 18. April 1943 während einer Typhus-Epidemie, Clara Russo wird am 18. Dezember 1943 zur Vernichtung nach Auschwitz verbracht.

Mit diesem Datum endet ein Teil dieser deutschen Geschichten, aber nicht die Geschichte der Villa Russo. Die wird von Julia Nelki am Ende ihres Buches wieder aufgenommen. Davor breitet sie mit atemberaubender Akribie die Herkunftsgeschichten der Familien Russo und Nelki aus, sephardische Juden die einen, ashkenasische die anderen, Händler die einen, Gauner und Zirkusleute die anderen. Und sie stellt dar, wie beide Familien durch einen Zahnarztbesuch zueinander finden.

Diese Akribie hat Julia Nelki der Sammelleidenschaft ihres Vaters Wolf zu verdanken, dessen Lebenslauf einen weiteren Geschichtsstrang innerhalb des Buches ausmacht. Ihm, der als Kind gerne in der Villa Russo zu Besuch war, hat Julia Nelki ihr Buch gewidmet. Wolf Nelki, 1911 in Berlin geboren, ist der „Paradiesvogel“ der großen Zahnarztfamilie Nelki. Schon als Schüler organisiert er sich im KPD-nahen „Sozialistischen Schülerbund“, wird Mitglied der KPD und studiert Jura und nicht Zahnmedizin. Seine Fluchtgeschichte und wie er in London als fast 50jähriger doch noch Zahnarzt wird, ist die Abenteuergeschichte eines Menschen auf der Suche nach sich selbst. „In seinem Innersten hielt er jedoch an dem Traum fest, Anwalt zu werden“, weiß Julia Nelki zu berichten. Auch als Sozialist ist Wolf Nelki lebenslang ein Suchender, der sich in der Nische zwischen Sozialdemokratie und Kommunismus verortet.

Seine Suche treibt ihn 1946 an der Seite des unabhängigen Labour-Politikers Fenner Brockway ins deutsche Trümmerfeld, denn noch hat er die Hoffnung nicht aufgegeben, als Sozialist am Aufbau eines demokratischen Deutschland teilzunehmen. Seinen Aufenthalt in Deutschland nutzt Wolf Nelki auch zu Nachforschungen über die Schicksale seiner Familienangehörigen, und damit findet er ein Thema, das ihn in den folgenden Jahrzehnten nicht mehr loslassen wird: die Familienforschung. Dass Wolf Nelki im Zuge dieser Forschungen auf die „Villa Russo“ stößt, ist unvermeidbar. Aber erst 1979 erfährt er, dass die Villa in Wernigerode noch steht. 1982 kann er den herunter gekommenen Prachtbau in Augenschein nehmen, und die Villa lässt ihn und seine Frau Erna nicht mehr los.

Nach der Wende in der DDR beginnt ein Wirtschaftskrimi um die Besitzverhältnisse der Villa Russo, in dessen Verlauf sich Nachkommen von Altnazis und Wendegewinnler der Liegenschaft zu bemächtigen suchen, wobei der Landkreis Wernigerode ausgesprochen unappetitlich agiert. Die zweite Enteignung der Villa kann gerade noch abgewendet werden, was auch dem Einsatz Michael Buckmillers zu verdanken ist, in dessen Offizin-Verlag in Hannover Julia Nelkis Buch jetzt erschienen ist. Wolf Nelki hat diese Wendung nicht mehr erlebt. Heute ist in der Villa Nelki eine musikalische Begegnungsstätte wider das Vergessen untergebracht, in der der Geist von Clara und Benno Russo lebendig gehalten wird.

Lothar Pollähne



Julia Nelki, Villa Russo - Eine deutsche Geschichte, Offizin-Verlag, Hannover, 2019, 230 S., 18,00 €

Nachbemerkung:
Julia Nelki wollte im März in der liberalen Synagoge in Hannover aus ihrem Buch lesen, konnte aber die Reise wegen der Pleite ihrer Fluggesellschaft nicht antreten. Die Lesung soll zu gegebener Zeit nachgeholt werden. Der Termin wird rechtzeitig bekannt gegeben.

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