Im Norden der Südstadt verläuft die Walter-Gieseking-Straße in östlicher Richtung von der Berliner Allee bis zur Marienstraße. Im ersten Teil ist sie nur Fußgänger*innen zugänglich. Seit 1958 ist sie nach dem Pianisten Walter Gieseking benannt. Davor war sie Teil der um 1875 angelegten Lavesstraße.

Walter Gieseking

Walter Gieseking

„Als Fünfjähriger entdeckte ich, dass ich lesen und schreiben konnte. Danach brauchte ich nichts mehr zu lernen.“ Diese rückblickende Aussage des Pianisten Walter Gieseking, der von sich behauptete, so gut wie nie zu üben, sagt eigentlich Alles über das Selbstbewusstsein des Meisters, der die Gabe hatte, Gehörtes und Gelesenes unmittelbar zu memorieren und danach aus dem Gedächtnis zu spielen.

Geboren wird Walter Wilhelm Gieseking am 5. November 1895 in Lyon, wo sein Vater — obwohl Arzt — als Schmetterlingskundler arbeitet. Im Alter von vier Jahren erhält Gieseking erste Musikstunden und lernt Gesang, Klavier und Geige. Eine Schule besucht er nicht. Erst als die Familie 1911 nach Hannover übersiedelt, erhält Walter Gieseking eine solide musikalische Ausbildung. Er studiert bei Karl Leimer, dem Leiter des Städtischen Konservatoriums, dem er es verdankt, dass er bereits 1915 an sechs Konzertabenden alle Klaviersonaten Beethovens zur Aufführung bringen kann. Von 1916 bis 1918 ist Gieseking Armee-Musiker, allerdings nicht als Pianist. Gieseking haut auf die Pauke.

Sein erstes großes Konzert spielt Walter Gieseking 1920 in Berlin. Ab 1921 folgen Tourneen durch Europa und ab 1926 durch die U.S.A.. Zu Giesekings Kern-Repertoire gehören Bach, die Wiener Klassiker, Schumann und Brahms. Giesekings Einspielungen der Soloklavierwerke von Mozart und der Klavierwerke von Claude Debussy und Maurice Ravel gelten bis heute als „Referenzwerke“. Obendrein ist Walter Gieseking ein Wegbereiter der „Neuen Musik“ und bestreitet als Pianist die Uraufführungen von Werken Paul Hindemiths und Francis Poulencs. Auch Werke der später von den Nazis als „entartet“ bezeichneten Komponisten Ernst Krenek, Arnold Schönberg und Franz Schreker stehen auf Walter Gieseking Programm. Insofern erweist sich Gieseking als „musikalischer Kosmopolit“.

Und dennoch lässt sich Gieseking mit den Nazis ein. Zwar hält er auch nach der Machtübertragung an seinem jüdischen Konzertagenten Arthur Bernstein fest und finanziert diesen bis zu dessen Emigration, aber er spielt am 24. Mai 1938 im Rahmen der ersten Reichsmusiktage, die zusammen mit der Ausstellung „Entartete Musik“ in Düsseldorf veranstaltet werden, im 2. Orchesterkonzert. Schon 1937 hatte Hitler Walter Gieseking 1937 zum Professor ernannt. 1944 wird er auf die so genannte „Reichsbegnadetenliste“ der besonders unverzichtbaren Kunstschaffenden gesetzt. Dem Pianisten-Kollegen Arthur Rubinstein gegenüber soll Gieseking geäußert haben: „I am a committed Nazi. Hitler is saving our country.“ (Ich bin bekennender Nazi. Hitler rettet unser Land.)

Obwohl er nicht Mitglied der NSDAP war, setzen die Alliierten Walter Gieseking nach der Zerschlagung Nazi-Deutschlands auf eine schwarze Liste belasteter Künstler. 1947 erhält er einen Ruf als Professor an die Hochschule für Musik Saar im damals französischen Saarbrücken. Erst 1949 wird er als „unbedenklich“ eingestuft und Walter Gieseking darf wieder auf Konzertreisen gehen, nicht allerdings in die U.S.A., wo es massive Proteste gegen sein Auftreten gibt. 1953 schließlich öffnen sich die Grenzen der U.S.A. und Walter Gieseking kann in New York City in der „Carnegie Hall“ auftreten. Am 23. Oktober 1956 wird Walter Gieseking schwer erkrankt in ein Londoner Hospital eingeliefert, wo er drei Tage später mit 61 Jahren stirbt. Neben seiner Tätigkeit als Pianist hat sich Walter Gieseking wie sein Vater der Schmetterlingskunde gewidmet und eine wissenschaftlich wertvolle Sammlung angelegt, die im Museum seines Wohnortes Wiesbaden verwahrt wird. Das ist gewiss bedeutsam, aber sein Nachruhm als Pianist ist nachhaltiger.


Walter Gieseking Foto: Großmutter von Adeline F. Harper, Paris 1949


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