Von Lothar Pollähne

„Unsere Stimmung ist ein bisschen besser. Man kann im Klub ein glückliches Lied hören. Wir sind jedoch auf alles vorbereitet, denn der Montag hat bewiesen, dass wir auf nichts vertrauen und nichts glauben dürfen. Uns kann das Schlimmste geschehen.“

Dies ist am 7. April 1943 der letzte Tagebuch-Eintrag des Yitskhok Rudashevski. Zwei Tage zuvor, an jenem besagten Montag, hatten die deutschen Besatzer 5000 Menschen in 85 Eisenbahnwaggons nach Ponar transportiert, wo sie erschossen wurden. Im Ghetto von Wilna schreibt Yitskhok Rudashevski am 5. April:

„5000 neue blutige Opfer. Das Ghetto ist tief erschüttert, wie vom Donner gerührt. Die Schlachthausatmosphäre hat die Leute erfasst. Es hat wieder begonnen. (…) Wieder schwebt über den Gassen Wilnas der Albtraum von Ponar — Es ist schrecklich … schrecklich. Die Menschen laufen herum wie Gespenster.“

Das „Schlimmste“ tritt für Yitskhok Rudashevski und sein Familie Anfang Oktober 1943 ein. Sie hatten sich nach der Räumung des Ghettos Wilna Ende September 1943 für einige Tage verstecken können. Dann wurden sie entdeckt, nach Ponar verschleppt und dort erschossen. Ponar, ein ehemaliger Ausflugsort, liegt am südwestlichen Rand von Wilna und gilt als die „zentrale litauische Mordstätte“. SS- und Wehrmachtskommandos sowie litauische Faschisten ermordeten dort etwa 100.000 Menschen.

Als Yitskhok Rudashevski Anfang Oktober 1943 ermordet wird, ist er noch keine 16 Jahre alt. Gut zwei Jahre lang hat er mit seiner Familie im Ghetto von Wilna leben müssen. In dieser Zeit schreibt er seine Eindrücke vom Ghetto-Dasein in einem Tagebuch nieder, von dem nur seine Cousine Sore Voloshin weiß.

Das Tagebuch beginnt ohne Tagesangabe im Juni 1941. Der junge kommunistische Pionier Yitskhok Rudashevski notiert, wahrscheinlich im Rückblick:

„Die Arbeit in der Schule ist vorbei. Die Tage sind sonnig und warm. Wir möchten raus aus der Stadt. Wir Pioniere gehen zu einer Pionierversammlung auf dem Schulhof. Wir laufen die im Sonnenlicht badenden Straßen Wilnas entlang. Unser einziges Thema ist das Ferienlager.“ Der erste Tagebucheintrag endet mit den Worten: „Nie war das Leben so froh und sorgenfrei wie im sowjetischen Sommer von 1941.“

Litauen ist seit knapp einem Jahr als „Sowjetrepublik“ Teil der UdSSR. Am 24. Juni 1941 schreibt Yitskhok Rudashevski in sein Tagebuch:

„Ich erinnere mich, wie ich im letzten Jahr fast um die gleiche Zeit in einem litauischen Städtchen der Roten Armee begegnete, wie wir etliche Kilometer liefen, um auf den ersten sowjetischen Panzer zu treffen, der dort angehalten hatte. Ein Jahr ist vergangen, und nun fahren deutsche Panzer über die Wilnaer Straßen. Und mir scheint, das alles ist ein schlimmer Irrtum.“

Schon wenige Tage später wird der „Irrtum“ zur Schreckensherrschaft der Nazi-Deutschen. Am 6. September werden alle jüdischen Bewohner*innen Wilnas in zwei eigens errichtete Ghettos mitten in der Stadt verbracht. Yitskhok Rudashevski wird zum Chronisten des Ghettos. Mit einer für einen erst 14jährigen bemerkenswerten sprachlichen und farbigen Präzision beschreibt der die Versuche, gleichzeitig ein „normales“ Leben zu führen und die ständig zunehmenden Drangsalierungen durch die Besatzer zu verkraften. Rudashevskis Farbpalette reicht von schrillbunt, etwa bei der Schilderung von Kulturabenden im „Klub“ oder Dichterlesungen bis hin zu grauschwarz, wenn wieder und immer wieder ein paar hundert Juden abgeholt werden zur Ermordung in Ponar. Hoffnungslosigkeit wechselt sich ab mit nahezu grenzenloser Euphorie, etwa über Erfolge der Roten Armee gegen die deutschen Invasoren.

Am 7. Februar 1943 notiert Yitskhok Rudashevski:

„Wir haben gute Nachrichten. Die Leute im Ghetto feiern. Die Deutschen gestehen ein, dass Stalingrad gefallen ist. Ich laufe über die Straße … Die Leute winken einander mit glücklichen Augen zu. Am Ende haben die Deutschen eine gigantische Niederlage erlitten. (…) Ich laufe durch die Straßen. Der Winter nimmt Abschied von den Ghettogassen. Die Luft ist warm und sonnig. Das Eis auf der Straße schmilzt und versickert, und unsere Herzen sind von Frühling erfüllt. Der Schnee in uns schmilzt auch, und ein sonniges Gefühl hüllt uns ein. Die Befreiung ist nah.“

Bis Wilna befreit wird, dauert es noch 16 Monate. Yitskhok Rubashevski und seine Familie erleben die Befreiung nicht. Einzig sein Cousine Sore Voloshin kann während des Transportes nach Ponar in die Wälder fliehen und schließt sich dort den jüdischen Partisanen an. Am 13. Juli 1944, kurz nach der Befreiung Wilnas, schreibt sie in einem Bericht:

„ Ich erreiche unsere ‚Maline’ (unser Versteck). Ein Schauer überläuft mich. Denn hier lebte meine ganze Familie während der Auflösung des Ghettos, und von hier aus gingen sie alle nach Ponar.

Ich fang an im Sand herumzuwühlen. Vielleicht kommt etwas zum Vorschein — und tatsächlich finde ich verstaubte Fotos. Fotos von uns. Ich suche weiter. In einer Ecke von Staub bedeckt, liegt ein Notizbuch. Meine Trauer bringt mich aus der Fassung, und meine Augen füllen sich mit Tränen. Dies sind die Notizen meines Freundes — sein Tagebuch aus dem Ghetto.“

Sore Voloshin übergibt das Tagebuch ihres Cousins dem 1944 in Wilna wieder gegründeten jüdischen Museum, das jedoch von der Sowjetmacht 1949 wieder geschlossen wird. Dem aus Wilna stammenden jüdischen Dichter Abraham Sutzkever, den Yitskhok Rudashevski sehr verehrt hatte, ist es zu verdanken, dass das „Tagebuch aus dem Ghetto von Wilna“ in das Archiv des „Jiddischen Wissenschaftlichen Instituts“ nach New York gelangte. Seit 2020 liegt es endlich auch in deutsche Sprache vor.

Yitskhok Rudashevski, Tagebuch aus dem Ghetto von Wilna, Berlin, 2020, 148 S., € 16,00


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