Als westalliierte Einheiten am 19. April 1945 die Elbe erreichen, ist der Krieg in Hannover schon seit gut einer Woche vorbei. Unter britischer Aufsicht gibt es bereits Ansätze einer zivilen Kriegsfolgenverwaltung mit dem am 11. April von den USAmerikanern eingesetzten sozialdemokratischen Oberbürgermeister Gustav Bratke.

Am 19. April treffen sich im Polizeipräsidium, an dessen Spitze seit dem 11. April mit Erwin Barth ebenfalls ein Sozialdemokrat steht, einige Dutzend Sozialdemokrat*innen und fassen den Beschluss, „den Aufbau der Organisation unverzüglich in Angriff zu nehmen.“ Am Tage dieser Zusammenkunft gelingt es Hermann Hasselbring in seiner Funktion als Vorsitzender des Unterausschusses für Wiederaufbau in Linden, Räume in der Jacobsstraße 10 zu requirieren, die zuvor vom „Reichsluftschutzbund“ genutzt worden waren. Damit ist ein weiterer Schritt zum Parteiaufbau getan, denn in diese Räume zieht wenig später das „Büro Dr. Schumacher“ ein. Damit hat die SPD, die es als Partei offiziell gar nicht geben darf, ihre erste Zentrale.

In den Tagen nach dem Treffen im Polizeipräsidium kursieren in Hannover Listen, in denen Menschen ihre Bereitschaft erklären können, im Falle der Zulassung Mitglied der SPD zu werden. Tausende tragen sich ein und schaffen so eine weitere Voraussetzung für den Neuanfang. Am 29. April treffen sich Sozialdemokrat*innen in der Fröbelschule in Linden. Kurt Schumacher hält ein Referat über die Perspektiven und Aufgaben einer neuen SPD in ganz Deutschland. Das Redemanuskript ist leider nicht überliefert, dürfte aber ähnlichen Inhalts gewesen sein wie die Rede, die Kurt Schumacher eine Woche später vor 130 Teilnehmer*innen im Sitzungssaal des Polizeipräsidiums halten wird.

Kurt Schumacher
Kurt Schumacher

Am 5. Mai treffen sich ebendort einige Genoss*innen zur Vorbereitung jener Sitzung, die als Gründungssitzung der neuen SPD angesehen werden kann. Kurt Schumacher ist nicht zugegen, wird aber von den Anwesenden auf die Vorschlagsliste für den Parteivorstand gesetzt, der am 6. Mai gewählt werden soll. Schumachers Auftritt an diesem 6. Mai muss beeindruckend gewesen sein, denn dieser nach zehn Jahren KZ-Haft ausgezehrte, kranke Mann demonstriert nach späteren Aussagen von Anwesenden selbstbewusst seinen Führungsanspruch an die Partei und den historisch bedingten Führungsanspruch der Partei für den Wiederaufbau Deutschlands in den Grenzen von 1937. Schumachers Referat trägt die fast trotzig zu nennende Überschrift „Wir verzweifeln nicht!“ und beginnt mit den Worten:

„Genossinnen und Genossen! Bei einer Analyse der Bedingungen und bei einer Überprüfung der Möglichkeiten und Ziele müssen wir davon ausgehen, dass der Marxismus nicht ein starres, zeitgelöstes Dogma ist, nach dem sich die Tatsachen zu richten haben, sondern eine Methode, mit der wir die Gegebenheiten zu untersuchen haben.“

Damit legt Schumacher ein deutliches Bekenntnis gegen die „korrekte Linie“ ab, wie sie in Moskau ausgegeben wird und positioniert sich gegen, auch bei Sozialdemokrat*innen durchaus vorhandene, Bestrebungen nach einer einheitlichen sozialistischen Partei. Zur Bekräftigung seiner Aussage beruft sich Schumacher auf Ferdinand Lassalle. „Politisch zweckvoll ist unsere Untersuchung nur, wenn wir den Mut aufbringen, jeder, auch der unangenehmsten und bedrohlichsten Tatsache ins Gesicht zu schauen. Wir müssen mit Ferdinand Lassalle: ‚Aussprechen, was ist!‘“

In seiner langen Rede fordert Kurt Schumacher die Sozialisierung von Konzernen, Großbanken und Großgrundbesitz, denn für ihn ist die Zerschlagung Nazideutschlands gleichzeitig die Niederlage des deutschen Kapitalismus. Schumachers Referat endet mit einem Friedensappell:

„Hitler und sein Nazismus waren der stärkste und perverseste Ausdruck der entarteten Klassenkräfte und Geisteshaltungen in unserem Lande. Die dürfen in Deutschland und in der Welt niemals mehr ihr Haupt erheben.

Die deutsche Katastrophe kann nicht mit deutschen Mitteln behoben werden. Aber wenn die Welt ihr Ziel einer grundlegenden und dauernden Veränderung Deutschlands erreichen will, kann sie auf die deutsche Mitarbeit nicht verzichten. Gewiss sind wir schwach. Aber wir werden stärker! Je größer unser Erfolg bei der Bekehrung unserer durch die schreckliche Tyrannei verwilderten und richtungslos gewordenen Mitbürger ist, desto mehr Vertrauen werden wir in der Welt erringen. Wir sagen das ohne Aufgeblasenheit, aber auch ohne Winselei.

Für unsere Ziele, für die unteilbare Dreiheit von Friede, Freiheit und Sozialismus, erstreben wir die Zusammenarbeit mit den vorwärtsdrängenden Kräften in der ganzen Welt, mit der großen Internationale, der Internationale der Arbeiterklasse und der Internationale aller Menschen des Friedens und der Freiheit.

Wir verzagen vor dieser Aufgabe nicht, und wenn wir in diesem Geiste unserem Volke helfen können, dann nützen wir der ganzen Menschheit!“

Im Anschluss an Schumachers Referat wählen die Anwesenden den Vorstand des Ortsvereins Hannover der gesetzlich noch nicht wieder existierenden SPD. Ihm gehören an: Kurt Schumacher als Vorsitzender, Hermann Hasselbring als geschäftsführender Sekretär, der Vorsitzende des Wiederaufbauausschusses, Albin Karl, sowie Karl Lotz und Richard Wassermann als Beisitzer. Wassermann, der bald darauf zum Stadtdirektor von Bad Münder ernannt und später in gleicher Funktion in Visselhövede gewählt wird, ist einer der Wenigen, die eine Kopie der 40seitigen Schumacher-Rede aufbewahren. Sie gelangt nach seinem Tod 1981 in die Hände von Hermann Hasselbring in der Südstadt. Nach dessen Tod übergibt Elsa Hasselbring den gesamten Nachlass ihres Mannes an das Stadtarchiv Hannover.

So schließt sich ein südstädtischer Kreis, denn Kurt Schumacher wohnte, nachdem er am 16. März 1943 aus dem KZ Dachau entlassen worden war, bei seiner Schwester in der Memeler Straße 6, die heute wieder Heinrich-Heine-Straße heißt. Da er sich nach Aussagen von Mithäftlingen schon in Dachau mit Plänen für das Nach-Nazi-Deutschland beschäftigt hatte, ist anzunehmen, dass er sich auch in der Südstadt mit solchen Gedanken trug. Wenn er sich dazu Notizen gemacht hat, dann sind diese bei dem Bombenangriff auf Hannover in der Nacht vom 8. auf den 9. Oktober 1943, bei dem die Südstadt weitgehend zerstört wurde, vernichtet worden.


Abbildungen:
Kurt Schumacher, Foto: Scholz
Kurt Schumacher (stehend), Egon Franke (links), Erich Ollenhauer, Fritz Heine und Alfred Nau (Rückansicht) in der Jacobsstraße 10, FES


Quellen:
Thomas Grabe, Reimar Hollmann, Klaus Mlynek, Wege aus dem Chaos, Hannover 1945 - 1949, Hamburg 1985
Albrecht Kaden, Einheit oder Freiheit, Die Wiedergründung der SPD 1945/46, Bonn 1964
Arno Scholz, Walther G. Oschilewski (Hrg.), Sein Weg durch die Zeit - Ein Lebensbild von Kurt Schumacher, Berlin 1954
SPD-Unterbezirk Hannover, Arbeiterinitiative 1945 - Wir verzweifeln nicht!, Hannover 1985
Peter Merseburger, Der schwierige Deutsche - Kurt Schumacher, Stuttgart 1995
Fried Wesemann, Kurt Schumacher, Frankfurt/Main 1952