Die IG Metall Hannover hat ein außergewöhnliches Geschichtsbuch herausgegeben, das die Menschen in den Mittelpunkt rückt, die in herkömmlichen Geschichtsbücher vergessen werden: die Arbeiterinnen und Arbeiter, die maßgeblich das Bild der Landeshauptstadt geprägt haben.

Von Lothar Pollähne

Der 30 August 1868 gilt als Gründungsdatum der hannöversch-lindener Metallarbeiter-Gewerkschaft. An diesem Tag treffen sich Metallarbeiter aus Preußens größten Industriedorf Linden im Gasthaus „Schwarzer Bär“ und gründen die „Vulkanunion“. Zum ersten Vorsitzenden wird Louis Schulze gewählt. Die lindener Metaller sind mit diesem Gründungsakt ein paar Tage schneller als der „Allgemeine Deutsche Arbeiterkongress“, der Anfang September 1868 in Berlin zwölf berufliche Arbeiterschaften gründet und den Sitz der Metallarbeiterschafft in Hannover ansiedelt. Zu deren Präsident wird Louis Schulze bestimmt. Ein Jahr später gründen die „Eisenacher“ um August Bebel und Wilhelm Liebknecht die „Internationale Gewerksgenossenschaft der Metallarbeiter“. Hannover wird zum Hauptsitz der neuen Gewerkschaft und gilt damit als Geburtsstätte der IG Metall.

All dies ist nachzulesen in einem mächtigen Buch, das Peter Schulz 1990 im Auftrag der IG Metall herausgegeben hat. Es enthält „Dokumente und Bilder zur Geschichte der hannoverschen Arbeiterbewegung 1814 - 1949“ und trägt der Titel: „Nicht die Zeit, um auszuruhen.“ An dieses Motto hat sich die IG Metall Hannover gehalten und im Herbst 2021 die Fortschreibung dieser Erfolgsgeschichte für die Jahre von 1945 bis 2010 herausgegeben mit dem Titel „Streiten und gestalten“.

Herausgekommen ist — um es vorwegzunehmen — ein opulent gestaltetes, sozialgeschichtliches Lesebuch für Hannover, das weit über die organisierten Metaller*innen hinaus Beachtung verdient. Dirk Schulze als erster und Sascha Dudzik als zweiter Bevollmächtigter der IG Metall Hannover stellen dem Buch einen Satz der österreichischen Polit-Rockband „Die Schmetterlinge“ voran: „Jeden Morgen, wenn wir zur Arbeit fahren, wird eine neue Seite im Geschichtsbuch aufgeschlagen.“

Genau so ist das Buch in sieben Abschnitten und einem „Update“ konzipiert. Jeder Abschnitt beginnt mit einer Darstellung der Lebenssituation der Menschen, der politischen Situation und der Situation in den Betrieben. Auf diese Weise lässt sich die soziale Entwicklung Hannovers, seiner Menschen und seiner Betriebe lückenlos nachvollziehen. Dabei entsteht ein Panorama des sozialen und gesellschaftlichen „Auf und Ab“, der Erfolge, Einbrüche und Katastrophen, beginnend mit dem „Bode-Panzer-Streik“ vom November 1946, dem ersten Streik im Nach-Nazi-Deutschland, mit dem die Mitbestimmungsrechte von Betriebsräten durchgesetzt werden konnten.

1955 kann sich die Stadt Hannover mit Hilfe der IG Metall gegen den DGB und den Niedersächsischen Finanzminister Alfred Kubel durchsetzen und das neue VW-Nutzfahrzeuge-Werk in die Landeshauptstadt holen. Bis heute ist VW der größte Betrieb im Bereich der IG Metall. Dort lässt sich die Körpertemperatur der Gewerkschaft am Besten feststellen.

Den in den 1950er Jahren drittgrößten Metallbetrieb, Telefunken — dort entwickelte Walter Bruch das Farbfernsehformat PAL — gibt es nicht mehr. 1979 begann der Niedergang mit der Schließung des Werkes II in Bornum. Das damalige Betriebsratsmitglied Heinz Jewski sollte als „Rädelsführer“ entlassen werden, weil er an der Spitze eines Demonstrationszuges dreieinhalb Stunden lang um den „Telefunkenkreisel“ gezogen war. Jewski genoss den Schutz der IG Metall-Spitze und durfte bleiben.

Dies kann als Ergebnis eines innergewerkschaftlichen Lernprozesses angesehen werden, denn gut ein dutzend Jahre zuvor musste der Betriebsratsvorsitzende der Akkumulatorenfabrik, der nachmaligen Varta AG, Fritz Maiwald auf den Schutz der IG Metall verzichten. Maiwald war Mitglied der KPD, und die hatte auf ihrem Münchner Parteitag 1951 die berüchtigte These 37 aufgestellt, nach der alle KPD-Mitglieder auch Mitglieder der Einheitsgewerkschaft sein sollten. Gleichzeitig geißelte diese These die Gewerkschaftsführungen als Kriegstreiber und Agenten des US-Imperialismus. Wer sich in diesem Zusammenhang nicht lutherisch verhielt und widerrief wurde aus der IG Metall ausgeschlossen. So auch Fritz Maiwald. Erst am 1. Mai 1966 wurde er wieder in die IG Metall aufgenommen.

Heinz Jewski blieb ein vergleichbares Schicksal erspart, obwohl auch er sich gegen die gewerkschaftliche Generallinie aufgestellt und den „Krefelder Appell“ gegen die Nato-Nachrüstung unterzeichnet hatte. „ Du bist doch auch Sozialdemokrat“, soll ihm damals der IG Metall-Bevollmächtigte Claus Wagner entgegen gehalten haben. Jewskis Antwort war kurz und bündig: „Ich bin Sozialdemokrat, aber kein Kanzlerdemokrat.“

Dass sowohl Fritz Maiwald als auch Heinz Jewski mit einem biografischen Artikel bedacht werden, zeichnet die souveräne Bandbreite der Buches aus, das zu Recht den Titel „Streiten und gestalten“ trägt. Mit Bedacht haben die Herausgeber ihrem Geschichtsbuch die „Fragen eines lesenden Arbeiters von Bertolt Brecht vorangestellt, geht es doch um Geschichtsschreibung von unten. Das kommt zum Ausdruck in den vielen Porträts von Menschen, die einzelnen Branchen und Betrieben zugeordnet sind und die Bandbreite gewerkschaftlichen Handelns widerspiegeln.

Die IG Metall hat sich in Hannover immer als streitbare Gestalterin des gesellschaftlichen Lebens verstanden und hat sich auch immer von den gesellschaftlichen Veränderungen gestalten lassen, zum Beispiel von den „68ern“ oder von der Friedensbewegung. Häufig ging dies mit innergewerkschaftlichen Auseinandersetzungen einher, wie etwa 1968 beim Streit um die Notstandsgesetze oder den Demonstrationen gegen die Stationierungen von Pershing II-Raketen. Und immer auch waren Reibungen mit der SPD Bestandteil der gewerkschaftlichen Selbstverständigung, denn allzu häufig ist es nicht leicht, gleichzeitig Mitglied der IG Metall und der SPD zu sein. Das wird auch in den kommenden Jahren so sein. Die IG Metall wird sich an ihrem Motto „Streiten und gestalten“ messen lassen müssen und hoffentlich die Geschichte von unten fortschreiben.


IG Metall Hannover (Hrsg.), Streiten und gestalten — Die IG Metall Hannover von 1945 bis 2010, VSA Verlag Hamburg 2021, 358 S., €19,80


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